Wahrnehmung: Nehmen alle Menschen Farben gleich wahr?
Im Februar 2015 sorgte der Schnappschuss eines Kleids im Internet für lebhafte Diskussionen. Welche Farbe hatte es? Die einen waren sich sicher: blauschwarz! Die anderen glaubten vielmehr, einen weißgoldenen Stoff zu sehen. Mittlerweile ist klar, dass eine uneindeutige Beleuchtung und die persönlichen Seherfahrungen zu diesen unterschiedlichen Eindrücken führten. Doch eine Frage blieb offen: Sehen wir eigentlich das Gleiche wie unsere Mitmenschen, wenn wir einen farbigen Gegenstand betrachten?
Das menschliche Auge ist in der Lage, bis zu 2,3 Millionen Farbtöne zu unterscheiden. Möglich wird das durch Sehzellen, die auf Licht unterschiedlicher Wellenlänge reagieren. Für uns sichtbar ist nur das Licht in einem ganz bestimmten Spektrum: von 400 bis 700 Nanometern. Im kurzwelligen Bereich erscheint es uns blau bis violett, langwelliges Licht sehen wir rot. Die meisten Farbeindrücke entstehen durch eine Mischung verschiedener Wellenlängen.
Der Mensch besitzt zwei Typen von Sehzellen: Stäbchen, die wir in der Dämmerung nutzen, sowie Zapfen, die bei Tageslicht für das Sehen verantwortlich sind. Stäbchen reagieren nicht auf bestimmte Wellenlängen, denn sie sind alle gleich aufgebaut. Deshalb können wir in der Dunkelheit keine Farben erkennen. Menschen mit normalem Farbensehen besitzen drei verschiedene Arten von Zapfen, die jeweils auf kurze, mittlere und längere Wellenlängen ansprechen. Sind diejenigen Zapfen, die für kürzere Wellenlängen empfindlich sind, stärker erregt als die anderen, dann nehmen wir die Farbe Blau wahr. Die Zapfen selbst sind sozusagen farbenblind. Vielmehr vermitteln Neurone in der Netzhaut den Farbeindruck, indem sie Erregungszustände der unterschiedlichen Zapfenarten miteinander vergleichen und verrechnen.
Das menschliche Auge ist in der Lage, bis zu 2,3 Millionen Farbtöne zu unterscheiden
Wie viele Zapfen auf der Netzhaut liegen und wie empfindlich sie auf bestimmte Wellenlängen reagieren, kann von Person zu Person durchaus abweichen. Das Signal, das nach der Verrechnung durch die farbempfindlichen Neurone an das Gehirn weitergeleitet wird, unterscheidet sich jedoch nicht mehr stark. Deswegen nehmen wir Farben auch viel ähnlicher wahr, als die Unterschiede in der Zapfenzahl vermuten lassen.
Warum ist das so? Einer Theorie zufolge müssen sich die Neurone in der Netzhaut nach und nach erst an die Informationen aus den Zapfen anpassen. In den ersten Lebensmonaten geben sie trotz unterschiedlicher Eingangssignale immer das gleiche Ausgangssignal an das Gehirn weiter. Neugeborene können Farben deshalb noch nicht richtig erkennen. Auch wie die Farben heißen, muss ein Kind lernen – und die Grenzen zwischen Grün und Blau können sich je nach Sprache und Kultur unterscheiden.
Menschen nehmen Farben also sehr ähnlich wahr. Eine Ausnahme bilden Personen mit Farbfehlsichtigkeiten wie einer Rotgrünschwäche. Betroffene haben entweder weniger als drei Zapfenarten oder ihre Zapfen reagieren auf andere Wellenlängen. Farbsehschwächen sind oft genetisch verursacht, können aber auch im Lauf des Lebens entstehen.
Die meisten verfügen somit über eine stabile gemeinsame Basis, wenn sie sich über Farben austauschen: Es gibt selten eine Diskussion darüber, ob ein Gegenstand blau oder gelb ist. Für unsere Vorfahren war das wichtig, um anhand der Färbung zu beurteilen, wann eine Frucht reif oder ein Blatt noch jung und essbar war.
Die Frage, ob wir Farben gleich wahrnehmen, hat aber noch eine weitere Komponente, die über die reine Physiologie hinausgeht. Ob unser subjektiver Bewusstseinseindruck von einer Farbe identisch ist, mein Rot also auch Ihr Rot ist, lässt sich mit den gängigen Mitteln der Naturwissenschaft nicht herausfinden. Was für mich Rot ist, erscheint für Sie vielleicht wie mein Türkis. Wir könnten lediglich gelernt haben, diesen Farbeindruck gleich zu benennen. Das bleibt ein bisher ungelöstes philosophisches Problem.
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