Gute Frage: Gibt es Phasen der Trauer?

Auf den ersten Blick scheint es plausibel, dass Trauer in festen Schritten verläuft. Doch vieles, was auf den ersten Blick so scheint, ist in Wahrheit ganz anders – so wie die Idee, die Erde sei eine Scheibe. Während wir die Vorstellung von der flachen Erde längst hinter uns gelassen haben, prägt das Stufenmodell der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross immer noch das Denken vieler Menschen über Trauer. Demnach durchlaufen Hinterbliebene alle die gleichen Phasen: Zunächst wollen sie den Verlust nicht wahrhaben, dann werden sie wütend, anschließend traurig oder niedergeschlagen – und schließlich nehmen sie ihn an.
Doch Belege für so einen universellen Trauerverlauf gibt es gar nicht. Jeder Mensch trauert anders. Selbst die Annahme, man müsse zwangsläufig eine Zeit der Verzweiflung durchleben, hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Verlaufsstudien zeigen, dass ein Todesfall viele Menschen weniger aus der Bahn wirft als oft vermutet. So analysierte ein Team um den Psychologen George Bonanno von der Columbia University in New York Daten von 205 Teilnehmenden, die einige Jahre vor sowie 6 und 18 Monate nach dem Tod ihres Partners oder ihrer Partnerin erhoben wurden. Ergebnis: Rund 46 Prozent erwiesen sich als »resilient«, mit niedrigen Depressionswerten sowohl vor als auch nach dem Verlust. In einer Folgestudie konnte ich zusammen mit Bonanno zeigen, dass das resiliente Muster selbst bis zu vier Jahre nach dem Verlust fortbestand. Die stabile Verfassung war demnach kein Zeichen von Verdrängung, sondern Ausdruck gesunder Anpassungsfähigkeit.
Dem alten Denken nach ist fehlendes Leid verdächtig: Da stimmt doch etwas nicht. Das kommt wohl noch, und dann sicher umso schlimmer! Wem es nach dem Tod eines nahen Menschen hingegen besonders schlecht geht, mache es »richtig«. Doch oft finden gerade solche Personen nicht mehr aus der Trauer heraus und brauchen professionelle Unterstützung. Sogar Menschen in Gesundheitsberufen und Trauerbegleitende halten an falschen Ideen fest, wie ich gemeinsam mit Margaret Stroebe und Henk Schut von der Universität Utrecht in einem Überblicksartikel beschrieben habe. Das hat Folgen: Wer nicht so trauert wie erwartet, ist verunsichert. Oder es bleiben Warnsignale unbemerkt, die auf eine anhaltende Trauerstörung hindeuten.
Wie lässt sich Trauer besser abbilden? Hilfreich sind Ansätze, die darauf achten, wie Menschen mit ihren Gefühlen umgehen – also auf Prozesse der Emotionsregulation. Solche Modelle können erklären, warum manche Menschen besser mit einem Verlust zurechtkommen als andere, und sie liefern Hinweise auf hilfreiche Bewältigungsstrategien. Die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Mary-Frances O'Connor etwa beschreibt Trauer als Lernprozess. Das Gehirn braucht Zeit, um die neue Realität – das Leben ohne die andere Person – zu begreifen.
Von den meisten Fachleuten anerkannt ist das »Duale Prozessmodell« von Margaret Stroebe und Henk Schut. Es unterscheidet zwei Arten von Herausforderungen, denen Trauernde begegnen. Zum einen geht es darum, den Verlust zu verarbeiten – etwa traurig zu sein und den verstorbenen Menschen zu vermissen. Zum anderen müssen sie die praktischen Anforderungen des Alltags bewältigen, die sich durch den Tod womöglich verändert haben: Wer den Partner oder die Partnerin verloren hat, steht vielleicht vor finanziellen Problemen oder muss plötzlich allein für die Kinder sorgen. Je nach Situation und Persönlichkeit rückt mal die eine, mal die andere Ebene in den Vordergrund. Eine zentrale Annahme des Modells lautet jedoch: Das Pendeln zwischen Verlust- und Alltagsbewältigung ist hilfreich – es entlastet und fördert das innere Gleichgewicht.
Das Duale Prozessmodell wirkt auf den ersten Blick vielleicht weniger eingängig als die vertrauten Phasen der Trauer, die man scheinbar nacheinander »abarbeiten« kann. Doch es bildet die Realität trauernder Menschen deutlich besser ab. Vor allem rückt es einen wichtigen Aspekt in den Mittelpunkt: Bei Trauer geht es nicht nur um den Verlust. Neben dem Tod steht das Leben, das ohne die andere Person weitergeht. Abschied und Neubeginn gehören untrennbar zusammen.
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