Navigation: Schadet Google Maps dem Orientierungssinn?

Stellen Sie sich vor, Sie kommen morgens mit dem Nachtzug in Venedig an und wollen auf schnellstem Weg vom Bahnhof zu Ihrem Hotel. Mit dem Navigationssystem auf dem Smartphone sind Sie binnen 20 Minuten angekommen und froh, Ihr Gepäck los zu sein. Aber haben Sie beim Gehen auch ein Gefühl für die Umgebung entwickelt und können sich nun selbstständig flexibel zwischen Bahnhof und Unterkunft bewegen?
Orientierung ist mehr, als sich an den Weg zu erinnern. Für echtes Raumgefühl muss man sich aktiv mit der Umgebung beschäftigen. So bekommt man eine Ahnung davon, wo sich wichtige Orte befinden, kann deren Position relativ zum eigenen Standort aktualisieren und eine mentale Karte anlegen – eine Repräsentation des Umfelds aus der Vogelperspektive. Sie aber waren beim Gehen höchst passiv: Ihr Blick war auf den blauen Punkt in Ihrer App gerichtet, der Sie auf kürzestem Weg zum Ziel führte. Ihren Orientierungssinn haben Sie dabei gar nicht gebraucht. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass Google Maps diesem schadet.
Überraschend waren für uns daher die Ergebnisse zweier Umfragen unter mehreren tausend Menschen in den Jahren 2014 und 2023 in Deutschland. Genau in diesem Zeitraum stieg die Nutzung von Navis in allen Altersgruppen, insbesondere aber bei Älteren. Zu keinem Zeitpunkt fanden wir einen Zusammenhang zwischen der Antwort auf die Frage »Wie gut ist Ihr Orientierungssinn?« und der Häufigkeit der Nutzung einer Navigations-App. Die empfundene Orientierungsfähigkeit nahm also nicht ab, wenn Menschen oft zum Navi griffen. Allerdings vermuten wir, dass sie ihre Kompetenzen überschätzten – schließlich kommt man mit technischer Hilfe ja stets zum Ziel.
Ein Rundgang durch den Zoo
Denn bereits 2006 stellten wir fest, dass Menschen mehr über ihre Umgebung lernen, wenn sie Teilrouten mit einer Karte planen, als wenn sie sich von einem Navigationssystem leiten lassen. In der Studie forderten wir 64 Männer und Frauen dazu auf, einen Weg durch einen ihnen unbekannten Zoo zurückzulegen. Ein Teil der Probanden lief mit einem Bildschirm herum, einer Art Vorläufer moderner Navigationssysteme. An kritischen Wegpunkten wurden Fotos der Kreuzungen aus der Perspektive der Teilnehmenden eingeblendet und sie erhielten Richtungsanweisungen. Die übrigen mussten anhand von Kartenausschnitten die Route selbst ableiten – und dann aus dem Gedächtnis ablaufen. Anschließend überprüften wir, wer am meisten über die Umgebung gelernt hatte, und stellten fest: In Sachen Routen-, aber vor allem Überblickswissen hatten die Kartennutzer die Nase vorn. Das passt zu einer 2024 veröffentlichten Metaanalyse eines Teams um die Psychologin Laura Miola von der Universität Padua. Die Autoren kommen darin ebenfalls zu dem Schluss, dass Menschen weniger über ihre Umgebung lernen, wenn ein GPS-System mit im Spiel ist.
Allerdings fehlen noch immer Längsschnittstudien, in denen dauerhafte Effekte von Navis auf die räumliche Orientierung untersucht werden. Ebenso unklar ist, ob sich bei jüngeren Menschen, die mit entsprechenden Tools aufgewachsen sind, Kompetenzdefizite in Orientierung, Kartenlesen und räumlichem Gedächtnis finden. In den Neurowissenschaften lautet ein Grundsatz »Use it or lose it«. Gemeint ist: Werden bestimmte Hirnregionen und Fähigkeiten nicht trainiert, verkümmern sie.
Taxifahrer bekommen seltener Alzheimer
Dafür spricht eine im Dezember 2024 publizierte Studie. Die US-amerikanischen Autoren um Joseph Newhouse von der Harvard University haben untersucht, woran rund neun Millionen Menschen mit 443 verschiedenen Berufen gestorben sind – und stellten fest: Personen, die als Taxifahrer oder Krankenwagenfahrer gearbeitet hatten, wiesen eine deutlich geringere Rate an Alzheimererkrankungen auf als der Bevölkerungsdurchschnitt. Zwar belegt das keinen ursächlichen Zusammenhang. Doch weil eine Hirnstruktur namens Hippocampus wichtig für räumliches Lernen ist und außerdem bei der Demenz früh in Mitleidenschaft gezogen wird, ist das Ergebnis schlüssig, ja vielleicht sogar alarmierend.
Was also tun? Navigations-Apps könnten am Rand Richtungen zu wichtigen Zielen anzeigen, ganz ähnlich wie die Himmelsrichtungen auf einem Kompass. Das würde die Orientierung unterstützen. Da die üblichen Anwendungen solche Funktionen nicht haben, bleibt Ihnen nur, ab und zu auf die bequeme App zu verzichten. Vielleicht brauchen Sie dann etwas länger – entdecken bei Ihrem Venedig-Trip aber einen ganz besonderen Ort, der Ihnen ohne den Umweg verborgen geblieben wäre. Und den Sie auch abends noch ohne Hilfsmittel wiederfinden.
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