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Psychologie des Harndrangs: Warum macht man sich vor Angst in die Hose?

Ob Grizzlybär oder Horrorfilm - manchmal treibt einem die nackte Angst nicht nur Schweiß auf die Stirn. Aber warum pinkelt man eigentlich vor Angst in die Hose?
Toilette

Eins gleich vorweg: Warum man sich vor Angst ins Hemd oder in die Hose macht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Neurobiologisch scheint eine – wie auch immer geartete – Überlastung des Nervensystems für die Stressreaktion verantwortlich zu sein, bei der die willentliche Kontrolle über den Schließmuskel aussetzt. Die spontane Blasenschwäche, so vermutet man, erleichterte unseren Vorfahren die Flucht und sicherte dadurch ihr Überleben.

Normalerweise sorgt ein ausgeklügeltes Zusammenspiel unterschiedlicher Hirnareale dafür, dass wir unsere Blase kontrollieren können. Ein Teil dieses Steuersystems ist das pontine Miktionszentrum, das im Hirnstamm sitzt und sich nicht willkürlich beeinflussen lässt. Es steht in ständigem Kontakt mit der Blase, registriert, wann sich Druck aufbaut, und entscheidet vorläufig, wann es an der Zeit ist, sie zu entleeren. Glücklicherweise regiert dieser Teil des Gehirns nicht allein; andernfalls gäbe es kein (Ein-)Halten bei voller Blase – wir müssten auf jeden Miktionszentrumsbefehl urinieren, egal wann und wo.

Panik, Angst und Aufregung verursachen die spontane Harninkontinenz, den unwillkürlichen Harnverlust. Die Frage nach dem Warum ist bislang allerdings unbefriedigend beantwortet. Dabei mangelt es kaum an Theorien, die das Phänomen jeweils auf ihre Art erklären. Nicht alle Hypothesen schließen sich dabei aus – und womöglich liegt ein wenig Wahrheit in verschiedenen Erklärungsansätzen.

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Wichtig ist sicher der präfrontale Kortex: die Hirnregion, die es uns ermöglicht, willentlich zu kontrollieren, wann wir uns erleichtern. Er kann den unwillkürlichen Befehl (»Blase entleeren!«) überschreiben, indem er hemmende Signale (»Einhalten!«) an den Hirnstamm sendet. Unter akuten Stressbedingungen werden die hemmenden Signale jedoch selbst übertönt: durch Signale des so genannten limbischen Systems, einer funktionellen Einheit unterschiedlicher Hirnregionen, die uns in brenzligen Situationen in Kampf- oder Fluchtbereitschaft versetzt. Haben wir Angst, sind die Signale aus dem limbischen System so stark, dass der Hirnstamm Schwierigkeiten hat, dem Befehl des präfrontalen Kortex (»Einhalten!«) zu folgen. Das Dazwischenfunken des limbischen Systems ist also schuld, wenn man sich vor Aufregung in die Hose macht, so lautet eine Erklärung.

Auch ein zweiter Erklärungsansatz dreht sich um das limbische System, das uns in Habachtstellung bringt. Zu diesem Zweck setzt es Prozesse in Gang, die den Sympathikus aktivieren. Zwar versetzt der Sympathikus unseren Körper in hohe Leistungsbereitschaft, aber er sorgt paradoxerweise auch dafür, dass die Muskulatur entspannt, so dass die Blase erschlafft und Urin sammeln kann. Werden die Reize für unser Gehirn zu viel, ist der Sympathikus überfordert und delegiert – so vermuten Wissenschaftler – einen Teil der Reizverarbeitung an den Parasympathikus, der wiederum für andere Körperfunktionen verantwortlich ist; unter anderem für die unwillkürliche Steuerung der meisten inneren Organe, auch für die der Blase. Kurzum: Demnach ist man vor lauter Angst weder in der Lage zu fliehen noch zu kämpfen – sondern macht sich schlicht und einfach vor lauter Stress in die Hose.

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Auch nicht immer praktisch: Die schüchterne Blase
Stress oder Angst können es auch unmöglich machen, sich zu erleichtern. Wer unter Paruresis, einer schüchternen Blase, leidet, bei dem wirkt aus irgendeinem Grund das hemmende Signal des präfrontalen Kortex übermächtig.

Das trifft nicht nur den Menschen. Alle tun es: von Gazellen, die sich auf der Flucht einnässen, weil ihnen Löwen dicht auf den Fersen sind, über Tauben in Todesangst, die auf der Flucht vor übermütigen Kleinkindern noch mal alles hinter sich lassen, bis hin zu gestressten Laborratten, die sich auf den Händen der Forscher erleichtern. Und obwohl sich das Phänomen des angstgetriebenen Urinierens in weiten Teilen des Tierreichs wiederfindet, lässt sich über etwaige evolutionäre Vorteile nur mutmaßen.

So spekuliert man etwa, die spontane Blasenentleerung sei eine instinktive Reaktion, die, ebenso wie das Markieren eines Territoriums mit Urin, dazu diene, Konflikte im Vorfeld zu vermeiden. Überlegt wurde auch schon, ob Sinn und Zweck von Hinterlassenschaften darin liegen könnten, etwaige Verfolger von den panisch Fliehenden abzulenken – oder gleich darin, sie auf Tretminen ausrutschen zu lassen. Eher schnörkellos ist dagegen die Idee, dass es sich ohne unnötigen Ballast einfach besser fliehen lässt.

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