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Gute Frage: Kann man sich Schmerzen einbilden?

Vor allem bei chronischen Schmerzen finden Ärzte nicht immer eine klare körperliche Ursache. Deshalb sind sie aber noch lange nicht unecht. Ursache ist oft ein schwer durchschaubares Zusammenspiel von Nervensystem, Gefühlen und Lebensumständen.
Eine Person sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen und hält mit den Händen das obere Bein. Die Haut hat einen warmen, rötlichen Ton. Es sind keine weiteren Details oder Texte im Bild vorhanden.
Schmerzen im Knie? Die Ursache muss nicht dort sitzen. Manchmal steckt ein überempfindliches Nervensystem dahinter.

Empfindet jemand Schmerzen, sind sie auch echt. Schmerz ist in erster Linie eine subjektive Erfahrung, die sich nicht einfach von außen erfassen lässt. Generell gilt für das menschliche Erleben: Die subjektive Realität einer Empfindung ist nicht an eine objektive Beweisführung gebunden. Das gilt auch, wenn sich für die Schmerzen keine klare Ursache findet, zum Beispiel ein Knochenbruch oder Gelenkverschleiß. Kann man bei akuten Schmerzen noch recht häufig auf derartige Ursachen schließen, ist das bei chronischen Schmerzen schon schwieriger.

Der Glaube, Schmerzen könnten eingebildet sein, hat seinen Ursprung in der historischen Trennung von Körper und Geist. Der französische Philosoph und Wegbereiter der Aufklärung René Descartes (1596–1650) hielt sie für zwei separate Entitäten. Fehlten Hinweise auf eine körperliche Ursache, wurden Schmerzen als psychisch und damit als »unecht« abgetan. Heute wissen wir es zum Glück besser.

Schmerzen entstehen nämlich nicht nur durch sichtbare Verletzungen körperlicher Strukturen. Vor allem, wenn sie chronisch sind, geht man von »biopsychosozialen« Ursachen aus. Das bedeutet: Sowohl »biologische« Prozesse wie Entzündungen oder Verletzungen als auch »psychische« Faktoren wie belastende Lebensumstände, leidvolle Erinnerungen oder negative Emotionen können Schmerzen auslösen, verstärken und aufrechterhalten. Die relativen Anteile mögen bei Betroffenen unterschiedlich gewichtet sein; beteiligt sind sie meist alle. Die Fibromyalgie, die mit Muskel- und Weichteilschmerzen, Erschöpfung und Schlafstörungen einhergeht, ist ein Beispiel für so eine biopsychosoziale Schmerzerkrankung.

Viele Ärzte und Therapeuten halten jedoch bis heute an der dualistischen Einteilung fest: Entweder sind Beschwerden physisch oder psychisch. Die Gefahr besteht darin, dass sich Betroffene (zu Recht) entwertet fühlen, wenn ihre Behandelnden konstatieren: »Wir haben nichts gefunden. Vermutlich haben Sie nichts. Wahrscheinlich ist es psychisch.« Man entzieht den Betroffenen damit auf einen Schlag die Legitimation für ihre Beschwerden. Das zerstört die Vertrauensbasis, und nicht selten wenden sie sich anschließend enttäuscht von ihren Ärzten ab.

Gleichzeitig mit der Annahme, Schmerzen seien eingebildet, wird häufig der Vorwurf geäußert, der Patient täusche sie nur vor. Zugegeben: Menschen simulieren manchmal, etwa wenn es ihnen um Aufmerksamkeit geht oder um Gesundheitsleistungen. Auch kommt es vor, dass Erkrankte ihr Leiden durch besonders klagsames Auftreten verdeutlichen. Doch beides ist Ausdruck psychischer Not, etwa der Angst, womöglich würde ihnen sonst nicht geglaubt. Ein empathischer Umgang mit den Betroffenen kann dazu beitragen, dass sie ihr allzu demonstratives Verhalten aufgeben.

Natürlich gibt es Versuche, Schmerzen zu objektivieren. Ein Team um die Hirnforscherin Herta Flor zeigte bereits 1997, dass die Schmerzverarbeitung von Menschen mit chronischen Rückenschmerzen auf kortikaler Ebene verändert ist. Meine eigene Arbeitsgruppe stellte fest, dass Personen mit Schmerzerkrankungen nach Schlafentzug von stärkeren Beschwerden berichteten, obwohl ihre experimentell gemessenen Schmerzschwellen unverändert blieben. In einer anderen Studie fanden wir bei solchen Patienten eine eingeschränkte Fähigkeit, Gefühle differenziert zu beschreiben und soziale Situationen zu durchschauen. 2024 zeigte ein Team von der University of Liverpool, dass etwa bei der Hälfte der Fibromyalgie-Patienten die kleinen, peripheren Nervenfasern verändert sind. Wir wissen jedoch noch nicht, ob die gemessenen Veränderungen Ursache oder Folge der Schmerzen sind.

Die Epoche der Aufklärung öffnete die Tür für die evidenzbasierte Medizin, hinterließ aber auch ein falsches Bild von Körper und Geist. Langsam erkämpfen wir uns eine differenzierte Sichtweise zurück – zum Wohl der Patienten.

  • Quellen

Marshall, A. Et al.: Small fibre pathology, small fibre symptoms and pain in fibromyalgia syndrome. Scientific Reports 14, 2024

Zunhammer, M. et al.: Theory of mind and emotional awareness in chronic somatoform pain patients. PLOS ONE 10, 2015

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