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Gedächtnis: Warum verlernt man Fahrrad fahren nicht?

Wieso vergessen wir Bewegungsabläufe wie Rad fahren nicht? Das hängt mit der Art und Weise zusammen, wie sie im Gedächtnis verankert sind, weiß Neuropsychologe Boris Suchan.
Eine Frau in einem braunen Mantel fährt an einer Strandpromenade Fahrrad.

Viele sind in der Schulzeit noch begeisterte Radfahrer. Mit dem Führerschein verschwindet der Drahtesel dann oft jahrelang im Keller. Wieder im Sattel, fährt es sich jedoch, als hätte man nie pausiert. Die Wenigsten würden sich darüber ernsthaft wundern. Aber so selbstverständlich ist das gar nicht, bedenkt man, wie häufig unser Gedächtnis uns in anderen Bereichen im Stich lässt.

Wie oft will uns der Name eines alten Bekannten nicht einfallen, oder wir kommen partout nicht mehr darauf, wo wir am Tag zuvor den Haustürschlüssel abgelegt haben. Dieses Wissen ist in unserem Gehirn anders gespeichert als Fertigkeiten wie Fahrrad fahren. Erinnerungen an Erlebnisse wie den Tag unserer Einschulung, den ersten Kuss, die Geburt des Kindes oder den letzten Restaurantbesuch liegen im so genannten episodischen Gedächtnis. Faktenwissen hingegen, etwa der Satz des Pythagoras oder die Hauptstadt Frankreichs, wird im semantischen Gedächtnis gespeichert. Diese beiden Arten von Gedächtnisinhalten haben eines gemeinsam. Man ist sich bewusst, dass man sie weiß – und kann sie anderen sogar mitteilen. Aus diesem Grund werden episodische und semantische Erinnerungen auch gerne als »deklarativ« oder »explizit« bezeichnet.

Davon unterscheiden sich erlernte Fähigkeiten, die größtenteils unbewusst und automatisch ablaufen: Klavier spielen, Zähne putzen oder eben Fahrrad fahren. Sie sind in einem separaten Gedächtnissystem verankert, wie ein kurioser Fall der Medizingeschichte zeigte.

Fähigkeiten wie Klavierspielen, Zähneputzen oder Fahrradfahren sind in einem separaten Gedächtnissystem verankert

Dem US-Amerikaner Henry Gustav Molaison (1926–2008) wurden in den 1950er Jahren wegen einer schweren Form von Epilepsie große Teile des Hippocampus neurochirurgisch entfernt. Nach dem Eingriff erlebten seine Ärzte eine böse Überraschung: Die Krampfanfälle waren zwar weniger geworden, aber dafür konnte sich der Patient ab diesem Zeitpunkt keine neuen Informationen oder Erlebnisse mehr merken. Auch viele Erinnerungen an die Zeit vor der Operation waren auf einen Schlag gelöscht.

Neuropsychologen führten daraufhin verschiedene Tests mit ihm durch. So ließen sie den vergesslichen Patienten immer wieder einen Stern nachzeichnen, während er seine Handbewegungen nur im Spiegel verfolgen durfte – eine Koordinationsaufgabe, die Ungeübten sehr schwer fällt. Anfangs noch unsicher und langsam, wurde Molaison von Sitzung zu Sitzung geschickter: Er konnte also doch Neues lernen! Allerdings erinnerte sich der Amnestiker nie daran, diese Aufgabe schon einmal durchgeführt zu haben. Für ihn war es immer das erste Mal.

Das Gedächtnis für Handlungsabläufe war bei Molaison im Gegensatz zum Fakten- und Erlebnisgedächtnis völlig intakt geblieben. Ist prozedurales Wissen, also Handlungswissen, das zum impliziten Gedächtnis gezählt wird, grundsätzlich stabiler als explizites?

Auch bei Schädel-Hirn-Traumata wird das prozedurale Gedächtnissystem so gut wie nie beeinträchtigt. Die Basalganglien, die als wichtiger Sitz dieses Knowhow-Gedächtnisses gelten, befinden sich relativ geschützt im Zentrum des Gehirns, unterhalb der Großhirnrinde. Eine Verletzung des Parietallappens, in dem der Speicher für motorische Programme vermutet wird, kann zwar durchaus dazu führen, dass jemand plötzlich nicht mehr weiß, wie man in die Pedale treten muss, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Solche Fälle sind jedoch eher selten.

Warum prozedurale Gedächtnisinhalte auch jenseits von Hirnschädigungen nicht so leicht vergessen werden wie deklarative, ist bislang unklar. Einer Theorie zufolge könnten in den Regionen, wo Bewegungsmuster verankert sind, bei Erwachsenen weniger neue Nervenzellen gebildet werden. Im Hippocampus trägt dieser ständige Umbau wahrscheinlich zur Löschung von Erinnerungen bei.

An dem Satz »Das ist wie Fahrrad fahren, das verlernt man nicht« ist also aus neurowissenschaftlicher Sicht etwas dran: Normalerweise bleiben uns einfache Bewegungsabläufe, die wir einmal verinnerlicht haben, tatsächlich ein Leben lang erhalten.

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