Direkt zum Inhalt

Zeitmessung: Was ist ein Jahr?

Komische Frage: 365 Tage natürlich. Bei genauerem Hinsehen ist die Frage allerdings viel weniger seltsam. Denn Jahr ist nicht gleich Jahr.
Paradoxien der Zeit

Heiko Neubert fragt: »Vielleicht können Sie mir bei folgendem Gedanken helfen. Vermutlich denke ich zu kompliziert. Meine Definition des Jahres: Ein Jahr ist der seit mindestens 2015 Jahren von Menschen gefühlte Zeitabschnitt, in dem die Erde einmal um die Sonne kreist. Der Zeitabschnitt für einen Umlauf heißt bei den Menschen ›ein Jahr‹. Man hat also eine Sonne-Erde-Uhr zum Messen von Zeitabschnitten. Beispielsweise heißt es: Dinosaurier lebten bis rund 65 Millionen Jahren vor dem Menschen. Man könnte aber auch sagen: Die Dinosaurier lebten zu einem Zeitpunkt X. Nachdem sich die Erde rund 65 Millionen Mal um die Sonne gedreht hatte, tauchte der Mensch auf. Wie bestimmt man nun Zeitpunkt oder Dauer von Ereignissen im Universum, die vor der Entstehung unseres Planetensystems lagen, also in einer Zeit, bevor sich die Erde 4,5 Milliarden Mal um die Sonne gedreht hat? Und noch ein Gedanke: Hat sich die Erde schon immer in der Geschwindigkeit wie heute um die Sonne bewegt?«

Herr Neubert hat mir mit seiner Frage erst richtig bewusst gemacht, dass das Wort »Jahr« zwei völlig verschiedene Bedeutungen besitzt. Zum einen bezeichnet es eine abstrakte Zeiteinheit, zum andern den ganz konkreten, tatsächlichen Vorgang eines Umlaufs der Erde um die Sonne (beziehungsweise den konkreten physikalischen Zeitraum, den dieser Umlauf eingenommen hat). Nur in der zweiten Bedeutung hat der Ausdruck »im Jahr 1951« einen Sinn. Und nur in der ersten Bedeutung hat die Aussage »… Kugelsternhaufen M13 entstand vor mehr als zehn Milliarden Jahren« einen Sinn.

Hat man das verstanden und akzeptiert, dann ist die Antwort auf Herrn Neuberts Frage ganz einfach: Die Zeiteinheit »Jahr« ist zwar an die Umlaufzeit der Erde angelehnt – und durch die Dauer dieses Umlaufs motiviert –, aber im modernen Sinn ist sie nicht an den wirklichen Umlauf der Erde um die Sonne gebunden.

Sie ist einfach nur 365,2425 mal 24 mal 60 mal 60 Sekunden, wobei die Sekunde im modernen Sinn durch soundso viele Schwingungen eines Cäsiumatoms im Grundzustand festgelegt ist. Früher, als die Erdrotation noch die beste existierende »Uhr« war, war die Sekunde 1/86 400 des mittleren Sonnentages, aber das Jahr war ebenfalls 365,2425 mal 24 mal 60 mal 60 Sekunden. In dieser Zeiteinheit »Jahr« kann man nun natürlich jeden beliebigen Zeitraum messen, gleichgültig, ob es die Erde in dem Zeitraum bereits gab oder nicht.

Um Herrn Neuberts zweite Frage zu beantworten: Nein, die Erde ist nicht immer mit derselben Umlaufzeit um die Sonne gewandert. Die Planetenbahnen haben sich in den letzten 4,5 Milliarden Jahren kräftig geändert, besonders in den ersten Dutzend Millionen Jahren. Den genauen Verlauf der Entwicklung kennt man allerdings heute noch nicht.

Ich sollte noch einige Anmerkungen zu der oben benutzten Zahl 365,2425 anfügen. Die einzelnen Kalenderjahre sind 365 oder 366 Tage lang, also unterschiedlich, und insofern nicht als physikalische Zeiteinheit zu gebrauchen. Die genannte Zahl gilt, wenn man als Zeiteinheit »Jahr« das mittlere gregorianische Kalenderjahr verwendet, also den Mittelwert über den gesamten 400-jährigen gregorianischen Schaltzyklus. Wenn ein Astronom für physikalische Größen die Einheit »Jahr« verwendet, zum Beispiel bei einer Eigenbewegung in »Bogensekunden pro Jahr«, dann steht per Konvention der Internationalen Astronomischen Union allerdings eine andere Einheit dahinter: Das julianische Jahr von exakt 365,25 Tagen. Der Unterschied beträgt rund elf Minuten.

Bevor es die betreffende Konvention gab, benutzten die Astronomen für den gleichen Zweck das so genannte tropische Jahr, den mittleren Zeitraum zwischen der Wiederkehr der selben Jahreszeiten auf der Erde. Es ist mit 365,2422 Tagen dem mittleren gregorianischen Kalenderjahr sehr nahe. Diese Nähe herzustellen war der Hauptzweck der Kalenderreform durch Papst Gregor XIII. im Jahr 1582.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.