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Freistetters Formelwelt: Die Mathematik der Ernährung

Wie viel Energie steckt in einem deftigen Weihnachtsessen – oder in Glühwein? Diese Fragen wurden erst erstaunlich spät untersucht.
Große Familie gut gelaunt beim Weihnachtsfestessen
Kalorienzählen ist nicht immer einfach. Aber zum Glück gibt es die 4-4-9-Formel.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Immer dann, wenn ein Jahr endet und ein neues beginnt, beschäftigen sich mehr Menschen als üblich mit ihrer Ernährung. Einerseits, weil es in der Adventszeit, um Weihnachten herum und zu Silvester einfach sehr viel mehr zu essen gibt als sonst. Und andererseits, weil nach der ganzen Völlerei der klassische Neujahrsvorsatz des Abnehmens relevant wird.

Es liegt auf der Hand, dass wir zunehmen, wenn wir mehr essen als sonst. Aber wissenschaftlich erforscht wurde das Ganze erst vor rund 100 Jahren. Maßgeblich daran beteiligt war der US-amerikanische Chemiker Wilbur Olin Atwater, auf den die sogenannte 4-4-9-Regel zurückgeht:

E=4Z+4P+9F

 Damit kann man die Energie (in Kilokalorien) eines Lebensmittels berechnen, wobei in einem Gramm Zucker (Z) vier Kilokalorien stecken, in einem Gramm Protein (P) ebenfalls vier und neun Kilokalorien pro Gramm Fett (F) zu berücksichtigen sind. Natürlich ist das nur eine sehr grobe Faustregel – die eigentliche Forschung von Atwater war deutlich umfangreicher.

Der Chemiker wurde 1844 geboren und beschäftigte sich zuerst mit Agrikulturchemie und erforschte Düngemittel. Bei Besuchen in Deutschland arbeitete er mit den Physiologen und Ernährungswissenschaftlern Carl von Voit und Max Rubner zusammen. Sie beschäftigten sich unter anderem damit, wie Menschen Fisch und Fleisch verdauen. Zurück in den USA beschloss Atwater, sich ebenfalls mit der Chemie der menschlichen Ernährung zu beschäftigen.

Leben in einer Kiste

In einer Serie ausgeklügelter Experimente maß Atwater den Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme und Energieabgabe bei Menschen mit bisher ungeahnter Genauigkeit. Seine Versuchspersonen verbrachten Tage in einer Art Kiste, die circa sieben mal zwei mal zwei Meter groß war. Sie aßen, arbeiteten, machten körperliche Übungen und schliefen in der Kiste. Nahrungsmittel wurden durch eine Öffnung gereicht und auf demselben Weg gelangten sämtliche Ausscheidungen der Probanden hinaus. Atwater konnte so messen, wie viel Wärme die Menschen abgaben, und war damit in der Lage, ihren Stoffwechsel zu dokumentieren.

Er ging dabei von der Gültigkeit des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik aus, der besagt, dass die Energie in einem abgeschlossenen System – wie Atwaters Versuchskiste – konstant ist. Die Energie aus der Nahrung kann also nicht verschwinden. Die Menschen müssen sie einerseits in Form von Wärme wieder abgeben, wenn sie sich körperlich betätigen, oder im Körpergewebe, das heißt als Fett, speichern. Bei Tieren hatte man schon entsprechende Experimente durchgeführt, aber Menschen hielt man damals immer noch für »besonders«. Atwater konnte aber eindeutig zeigen, dass auch wir nicht von den Gesetzen der Thermodynamik ausgenommen sind.

Mit seinen Experimenten lieferte er das, was heute als »Atwater-System« bekannt ist: ein Regelwerk aus Gleichungen, mit denen man berechnen kann, wie viel verwertbare Energie in Nahrungsmitteln steckt. Die oben aufgeführte 4-4-9-Regel ist nur eine starke Vereinfachung davon.

Die Arbeit von Wilbur Olin Atwater hat bis heute Auswirkungen: Kalorienangaben auf Lebensmittelverpackungen oder die offiziellen Ernährungsrichtlinien vieler Länder gehen darauf zurück. Atwater konnte in seiner Forschung außerdem nachweisen, dass auch die Energie im Alkohol vom menschlichen Körper verwertet wird. Das wurde von der Abstinenzbewegung in den USA damals bestritten, die dem Alkohol gar keinen ernährungswissenschaftlichen Wert zuschrieben.

Aber auch der Besuch am Glühweinstand wird sich früher oder später auf der Waage bemerkbar machen.

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