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Kolumnen: An den Brüsten der strengen Mutter

Von den Sinus durae matris wollt’ ich Ihnen heute reden. Schlagen wir’s im Wörterbuch nach. »sinus« – die Brüste, der Busen, der Meeresbusen, die Bucht; »durus« – hart, streng, starr; »mater« – die Mutter. Aber wenn Sie jetzt eine ödipale, sadomasochistische Abhandlung mit Domina und Peitsche erwarten, sollten Sie an dieser Stelle aufhören zu lesen.

Die Sinus durae matris sind nämlich ein Teil der Anatomie des Gehirns, nun, nicht des Gehirnes selbst, sondern der Häute, der Hirnhäute, die es umgeben. Das Hirn kommt nämlich nicht nackend daher, nein, es ist allseits schamhaft in Hüllen, in Kleider gewandet, die man als Meningen (Hirnhäute) bezeichnet. Sie kennen den Begriff »Meningen« von der »Meningitis«, der Entzündung dieser Häute. Von diesen Hüllen gibt es gleich drei: die Dura mater (die »harte Mutter«), die Arachnoidea mater (die »spinnenartige Mutter«) und die Pia mater (die »sanfte Mutter«).

Was soll das schon wieder? Weitere inzestuöse und sodomitische Perversionen? Ödipale Komplexe, Sehnsüchte nach strafenden, streichelnden, netzestellenden, ihre Opfer aussaugenden Müttern bei den Anatomen? Wer hat sich diesen Blödsinn ausgedacht? Es ist aber gar kein Blödsinn – im ersten Bild sehen Sie, warum. Der Begriff »Mutter« meint von alters her in allen Sprachen nicht nur die Mutter als Person und »Mama«, sondern, in der Übertragung, auch das Umschließende, das Einhüllende, das, was etwas anderes umgreift und ernährt – wie eine schwangere Mutter den Fötus eben, wie eine Mutter den Schraubenschaft, wie die Meningen das Gehirn. Und nähren – nähren tun sie es auch, das werden wir gleich sehen.

Dura mater | Links oben: Schraube und Mutter – die Mutter ist das, was etwas anderes umgreift.
Unten sieht man die verschiedenen Septen der Dura mater, die sich wie (unvollständige) Trennwände im Schädelinneren aufspannen. Das Gehirn wurde vollständig entfernt.
Die blauen Gänge und Kanäle sind die venösen Sinus durae matris. In den Sinus des Hinterhauptsbeines sammelt sich das venöse Blut, um schließlich durch ein Loch in der Schädelbasis in die Vena jugularis des Halses abzufließen (blauer Pfeil).
In den Meningen, in den Müttern des Gehirns verlaufen nämlich die großen Blutgefäße, die arterielles Blut zum Gehirn hin und das venöse Blut wieder von ihm wegschaffen. Und die Buchten der Dura mater – das sind die Räume, das sind die Kanäle, durch die das Blut abfließt. In der allgemeinen Begeisterung für »Gehirn und Geist«, »das Organ der Seele« und »neuronale Repräsentation kognitiver Funktionen« sollte man nämlich nicht vergessen, dass das Gehirn auch ein ganz normales Organ ist, das mit Energie, mit Brennstoff (Glucose) und Sauerstoff befeuert sein will.

Im Bild oben, neben der Schraube und der Mutter, ist die Dura mater zu sehen, so, wie sie im Inneren des Schädels aufgespannt ist. Sie sehen: Das ist eine komplizierte, verwinkelte Angelegenheit, die Dura mater umhüllt und bekleidet das Gehirn nicht nur, sie hat auch alle möglichen Zwickel, die tief in die Spalten des Gehirnes eingreifen, etwa so, wie der String des Tanga-Slips der peitscheschwingenden Domina tief zwischen … Herrgottsakra, wo kommen denn jetzt schon wieder diese Assoziationen her?

In der Dura sind Hohlräume, in denen das venöse Blut, das aus dem Hirn stammt, sich sammelt. Sie sind in der Abbildung bläulich hervorgehoben. Das sind sie jetzt endlich, die Sinus durae matris, von denen ich zu erzählen versprach. Letztendlich münden sie alle in die Vena jugularis, die Drosselvene des Halses. Sie heißt so, weil man jemanden erdrosseln kann, wenn man den Blutfluss in dieser Vene – zum Beispiel beim Erhängen – unterbindet. Denn wenn kein Blut aus dem Gehirn heraus kann, ist es genauso, als ob keines hinein käme: Es wird sehr schnell zappenduster.

Die Sinus durae matris selbst sind ebenfalls dustere Kavernen, ein System von Gängen und Abzweigungen voller blutiger Materie und Assoziationen. Der Ort, wo all diese Sinus zusammenkommen, die zentrale Katakombe, in der das Blut sich sammelt, bevor es die Schädelhöhle nach unten verlässt, liegt im Innern des Hinterhauptsbeines und trägt einen schauerlichen Namen: das Torcular des Herophil (Fußnote 1). Also, wenn das mal nicht nach Folterkeller und Perversion im dark-room klingt: Torturen im Torcular, und wie hieß dieser Typ nochmal? Homophil? (2)

Nach vorne hin steht der Folterkeller des Herophil über steinige, enge Gänge (3) mit dem Sinus cavernosus in Verbindung. Und dort, in dessen Kavernen, kulminiert das Grauen. Die Sinus cavernosi, die beiderseits der Hypophyse und gleich hinter den Augenhöhlen liegen (siehe Bild 2), können Sie sich ein wenig so vorstellen wie Dr. Frankensteins Labor en miniature. Verwinkelt, duster, von Spinnweben verhangen, ein Dickicht von Leitungen, Ketten, Seilen, Rohren, überall baumelt irgendwelche Elektroinstallation an den Wänden. Einige dicke, Funken schlagende Kabel laufen sogar quer durch den Raum (4). Das irrsinnigste Stück der Inneneinrichtung aber ist ein wirklich dickes Rohr, das unvermittelt aus dem Boden des Sinus hervorkommt, sich windet wie der Siphon eines Waschbeckens, um dann die Decke zu durchstoßen und nach oben zu verschwinden. Das Rohr dampft vor Hitze, es pulsiert sogar ein wenig und scheint beinahe zu platzen. Mitunter tut es das auch. Und das bisschen Raum, das jetzt im Sinus cavernosus noch frei bleibt, ist mit venösem Blut gefüllt. Frankensteins Labor, blutig abgesoffen.

Sinus cavernosus | Ein Blick auf das Zentrum der Schädelbasis, vom Scheitel her gesehen, nach oben hin geht es zur Stirn: Das weiße Sternchen markiert das knöcherne Dach der rechten Augenhöhle. Das tiefe Loch unten, in dem man den runden Anschnitt des Rückenmarks sieht, ist der Eingang in den Wirbelkanal. Das Gehirn wurde komplett entfernt.
Der blaue Pfeil weist auf den Hohlraum des rechten Sinus cavernosus, in dessen Dach an dieser Stelle ein schlitzförmiges Loch geschnitten wurde. Das venöse Blut, das den Hohlraum normalerweise füllt, wurde ausgespült.
Links ist das Dach des Sinus ganz entfernt: Jetzt sieht man im Innern das gewundene Rohr der Arteria carotis interna (rotes Sternchen). Die gelblich weißen »Strippen« im und um den Sinus herum sind allesamt Hirnnerven, die zur Augenhöhle hin ziehen.
Das braune Gebilde im Zentrum des Bildes, genau zwischen den Sinus cavernosi, ist die Hypophyse. Das tiefe Loch gleich unter der Hypophyse … nun, das ist eine andere Geschichte.
Das Bild, für das ich mich ganz herzlich bedanke, stammt, etwas verändert, aus T. Dellers und T. Sebesténys wunderschönem »Fotoatlas der Neuroanatomie« (Urban und Fischer, 2007). Tamás Sebestény, der die Präparationen gemacht hat, ist, wie Sie sehen, ein Meister des Skalpells.
Was ist denn das jetzt schon wieder für ein filmreifer Quatsch? Es ist aber gar kein Quatsch, es sind die Ruinen einer einstmals sinnvollen Konstruktion, und wieder hat die Sache mit Energie, mit Erwärmung und Abkühlung zu tun – der des Blutes nämlich. Das pulsierende Rohr ist die Arteria carotis interna, ein Ast der Kopfschlagader, die sauer- und nährstoffreiches Blut ins Gehirn schafft. Das arterielle Blut ist warm, mitunter ZU warm fürs Gehirn, vor allem wenn die Sonne draufscheint. Das venöse Blut aber, das die Arteria carotis im Sinus cavernosus umspült, ist ein wenig kälter – eine Klimaanlage?

Jawohl, eine Klimaanlage! Beim Menschen spielt es wohl keine große Rolle mehr, aber bei Tieren, vor allem bei denen, die in heißen Zonen leben – bei Kamelen zum Beispiel (5). Der Sinus cavernosus steht nämlich mit den Venen der Nasenschleimhaut in Verbindung, bei Mensch und Kamel. Und die feuchte Nasenschleimhaut kühlt das venöse Blut, so wie der verdunstende Schweiß die Haut kühlt. Das kühle Blut, das aus der Nase kommt, umspült nun die heiße Arteria carotis: voilà, der Hirnkühler!

Beim Menschen, wie gesagt, spielt das wohl keine große Rolle. Die Verbindung des Sinus cavernosus zu den Nasenvenen geht bei ihm nur um drei Ecken – aber mit den Venen der Augenhöhle, die direkt vor ihm liegt, ist der Sinus cavernosus auf kurzem Wege verbunden. Und diese Venen wiederum stehen mit denen des Gesichts in Verbindung.

So. Jetzt hab ich die ganze Anatomie beieinander, die ich brauche, um noch zwei Gruselgeschichten aus dem Reich der harten Mütter zu erzählen. Klinische Gruselgeschichten diesmal. Hat Ihre Oma, als Sie noch ein pickliger Teenager waren, Sie auch mit dem Spruch erschreckt, dass man Pickel oberhalb der Oberlippe nicht ausdrücken dürfe, das sei irgendwie gefährlich? Ist es auch. Wenn der Schuss nämlich nach innen losgeht, in eine der Gesichtsvenen, kann die Eiterladung auf dem Weg über die Venen der Augenhöhle in den Sinus cavernosus gelangen, wo sie garantiert in dessen verwinkelten Ecken hängenbleibt. Das ist nicht gut. Es passiert aber wohl höchst selten, ich jedenfalls habe meine pubertäre Akne schadensfrei überstanden.

Gar nicht so selten sind aber so genannte Aneurysmen der Arteria carotis. Das sind angeborene Ausstülpungen der Wand dieses Gefäßes, die urplötzlich platzen können. Die Aneurysmen haben meist viel dünnere Wände als das Gefäß, an dem sie hängen. Sie können sich das vorstellen wie einen Sack, der sich mit jedem Herzschlag bedrohlich bläht. Die Sache kann platzen, und das ist natürlich erst recht nicht gut. Wenn nun so ein Aneurysma, rhythmisch sich blähend, in dem Abschnitt der Carotis liegt, der den Sinus cavernosus durchspannt, dann übt es Druck auf das venöse Blut aus. Die Wände des Sinus sind starr, sie geben nicht nach – aber die Venen der Augenhöhle, nach vorne hin, die sind elastisch und schwellen dann im Rhythmus des Pulses stark an und ab. Mit dem Resultat, dass der ganze Augapfel mit jedem Herzschlag ein wenig nach vorne getrieben wird und zwischen zwei Schlägen wieder in seine Normalposition zurücksinkt. Die Mediziner nennen das »die pulsierende Glotzäugigkeit« (pulsierender Exophthalmus), und es muss ein grusliger Anblick und wahrscheinlich auch ein grusliges Erleben sein.

Oh, oh – das sind also die Schauergeschichten und Assoziationen, die einem Anatomen, der sich von der Milch aus den Brüsten der harten Mütter nährt, so in den Sinn kommen. Fast glaub ich, dass ich zur Abwechslung lieber mal intensiv über die Pia mater, die innerste, die sanfte Hirnhaut nachdenken sollte. Aber in der logischen Reihe von außen nach innen, von der Oberbekleidung zur Unterwäsche des Gehirns käme als Nächstes die Spinnenhaut, die Arachnoidea mater – sind Sie Arachnophobiker? Ich hätt’ da ein paar nette Geschichten …


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Fußnoten:
(1) Jajaja: Sofern einer aus der Zunft hier mitliest – sie HIESS »Torcular herophili«, noch bis ins 19. Jahrhundert. Das heißt wörtlich: die »Schraubenpresse des Herophil«. Herophil war ein berühmter Anatom im antiken Alexandria. Was aber eine »Schraubenpresse« (also eine Art von altmodischer Saftpresse) mit diesem Teil der Sinus durae matris zu tun haben soll, ist eines der ewigen Geheimnisse der Anatomie. Trotzdem nannte man die Struktur Hunderte von Jahren so. Heute freilich nennen wir sie »Confluens sinuum« (den »Zusammenfluss der Buchten«), was die Sache zwar viel genauer trifft, aber die Anatomie einer reizvollen Abwegigkeit beraubt.

(2) Nein, HEROphil, alias Herophilus von Chalcedon, ca. 330–280 v. Chr. Einer der Väter der Anatomie. Ein wenig pervers aber schon: Ihm werden Vivisektionen an Menschen nachgesagt.

(3) Sinus petrosus – der steinige, felsige Sinus: weil er am Felsenbein, dem Os petrosum, liegt.

(4) In der Tat: Der Sinus cavernosus enthält viele feine Bindegewebszüge, die kreuz und quer in ihm aufgespannt sind. Der dritte, vierte und fünfte Hirnnerv liegen in den Wänden dieses Sinus, und der sechste Hirnnerv läuft sogar mitten hindurch.

(5) H. Zguigal, N. G. Ghoshal (1991): Dural Sinuses in the Camel and Their Extracranial Venous Connections.
Anatomia, Histologia, Embryologia: Journal of Veterinary Medicine Series 20(3), S. 253–260.

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