Eine Prise Chemie: Betörender Geschmack, verstörendes Aroma

Unser Essen steckt voller chemischer Details: Leckere, wohltuende und auch schädliche Inhaltsstoffe kommen zusammen und vollführen faszinierende Reaktionen. In der Kolumne »Eine Prise Chemie« klären wir, wie viele Bananen ein zuckerfreier Kuchen verträgt, warum abgestandener Kaffee so übel schmeckt oder wie man bäckt, ohne Acrylamid herzustellen.
Neulich am Frühstückstisch überraschte mich mein Kind mit einem unerwarteten Ausruf: »Mama, mein Müsli schmeckt so eklig!« Irritiert fragte ich, warum, und erhielt eine Antwort, die mich als Chemikerin laut lachen ließ: »Es hat keine Aromen! Guck mal, steht auf der Packung!« Offenbar hatte hier jemand gut zugehört, als ich mich ein paar Tage zuvor über diese irreführende »Information« auf der Müslipackung echauffiert hatte.
Der Witz daran: Lebensmittel jeglicher Art strotzen nur so vor Aromen. Stellen Sie sich eine frisch aufgebrühte Tasse Espresso vor, ein Glas trockenen Rotwein oder ein Stück zart schmelzende Schokolade. Vermutlich haben Sie sofort den Duft von gerösteten Kaffeebohnen, die Noten von Vanille, roten Beeren und altem Holz oder den unverwechselbaren Geschmack von schokoladigem Kakao im Kopf. All das sind Aromen: Wir nehmen sie wahr, wenn sie uns beim Essen und Trinken als flüchtige Bestandteile von Lebensmitteln in die Nase steigen und dort an die Geruchsrezeptoren andocken. Das meiste, was wir schmecken, riechen wir also.
Es sind mehrere hundert solcher »duftenden« Moleküle bekannt. Ein Aromamolekül kann verschiedene Geruchseindrücke hervorrufen, weil es mitunter an unterschiedliche Rezeptoren andockt. Sämtliche Aromamoleküle lassen sich außerdem miteinander kombinieren und so zu neuen Gerüchen zusammensetzen. Dadurch ist der Strauß an Aromen, den wir wahrnehmen können, unvorstellbar umfangreich. Im Gegensatz dazu können wir mit der Zunge nur fünf Geschmacksrichtungen unterscheiden: süß, sauer, salzig, bitter und umami. Ein Frühstücksmüsli ohne Aromen wäre demnach ziemlich unspektakulär.
Um den komplexen Duft einer Speise oder eines Getränks zu erleben, müssen wir nicht einmal extra daran riechen. Die Aromastoffe wandern durch den Mundraum in die Nasenhöhle, denn beides ist über den Rachen miteinander verbunden. Dort nehmen die Rezeptoren der Riechschleimhaut die Düfte auf und leiten die Sinneseindrücke direkt ans Gehirn weiter. Man spricht auch von der retronasalen Wahrnehmung, weil die Aromen nicht von vorn in die Nase steigen, sondern sich quasi durch die Hintertür hineinschleichen.
Die Münchner Firma Air up hat diesen Effekt sogar zum Verkaufsprinzip gemacht. Sie stellt Wasserflaschen her, auf die sich spezielle Duft-Pads stöpseln lassen. Wenn man aus der Flasche trinkt, wird über ein spezielles Röhrchen Luft über das Pad in die Flasche gesaugt. Im Mund kommt dann Wasser an, das mit Luftbläschen versetzt ist, die Duftmoleküle enthalten. So soll man das Gefühl haben, aromatisiertes Wasser zu trinken – da sich die Aromen etwa von Himbeere, Melisse oder Cola wahrnehmen lassen. Das Unternehmen verlässt sich hier ganz auf die Wirkung der retronasalen Wahrnehmung.
Den retronasalen Effekt ausnutzen
Doch sogar, wenn man um den Effekt weiß, unterschätzt man, wie stark er ist. Am besten probiert man es daher selbst aus. Kosten Sie eine Speise oder ein Getränk – am besten etwas, was Sie gern mögen – und halten Sie sich dabei zunächst die Nase zu (und die Luft an). Versuchen Sie herauszufinden, was Sie mit der Zunge schmecken. Sie werden überrascht sein, wie schwer es ist, überhaupt zu erkennen, was Sie im Mund haben. Atmen Sie dann bei geschlossenem Mund langsam durch die Nase aus. Dadurch geben Sie den Molekülen die Gelegenheit, von Ihrem Mundraum in die Nasenhöhle zu strömen. Ihre Geruchsrezeptoren werden jetzt von den köstlichen Stoffen geradezu überflutet und Sie werden in kürzester Zeit erkennen, was Sie gerade essen oder trinken. Wenn Sie das Experiment mit dem nächsten Bissen oder Schluck wiederholen wollen, klappt das Ausschließen der Geruchseindrücke schon weniger gut, da sich jetzt bereits Geruchsmoleküle in Ihrem Nasenraum befinden.
Ihr Wissen über den retronasalen Effekt können Sie umgekehrt auch nutzen, wenn Sie einmal etwas vorgesetzt bekommen, was Sie gar nicht mögen, sich das aber aus irgendeinem Grund nicht anmerken lassen wollen. Atmen Sie (möglichst unauffällig) mit offenem Mund aus. Das wirkt Wunder, denn so befördern Sie einen Teil der flüchtigen Substanzen direkt wieder nach draußen, ohne dass diese den Umweg über die Nase nehmen müssen. Sie werden erstaunt sein, wie wenige Aromen Sie wahrnehmen.
Es gibt praktisch keine Lebensmittel ohne Aromen, Wasser einmal ausgenommen. Alles, was wir essen oder trinken, setzt früher oder später flüchtige Bestandteile frei, die wir riechen. Das ist überlebenswichtig: Denn das Aroma von Lebensmitteln zeigt uns auch an, ob wir etwas gefahrlos genießen dürfen. Fruchtige Düfte signalisieren eine Speise, die wir direkt verzehren können. Fauliger Geruch hingegen warnt uns davor, dass etwas dabei ist, schlecht zu werden. So setzen faule Eier das übel riechende Giftgas Schwefelwasserstoff frei; wenn Fleisch verdirbt, entstehen Cadaverin und Putrescin, zwei Amine, die zusammen den typischen Verwesungsgeruch ausmachen. Und auch gammligen Fisch erkennen wir an penetrant riechenden Aminen, etwa Trimethylamin.
Dessen charakteristischer, alarmierender Geruch brachte mich beim Zelten in Nordschweden einmal dazu, nach der Quelle des Gestanks zu fragen, der dort in der Luft lag. Ich befürchtete eine Art Fischsterben in dem See, an dessen Ufer meine Mitreisende und ich unser Zelt aufgeschlagen hatten. Wir sollten uns keine Sorgen machen, hieß es. Hier habe gerade das traditionelle Krabbenfestival stattgefunden, bei dem auch Surströmming verzehrt worden sei. Das war drei Tage zuvor gewesen.
Das zweifelhafte Aroma von lang fermentiertem Fisch
Surströmming, der fermentierte Hering, der traditionell in Skandinavien verzehrt wird, ist ein Extremfall für die Aromaentfaltung von Speisen. Die Fische werden nach dem Fang bis zu zwölf Wochen in einem Fass mit Salzlösung eingelegt. Bei der dabei stattfindenden Fermentation zersetzt eine Vielzahl von Mikroben verschiedene Bestandteile des Fischs, darunter beispielsweise salztolerante Milchsäurebakterien. Diese Prozesse setzen sich weiter fort, nachdem der Fisch samt Lake verzehrfertig in supermarkttaugliche Dosen verpackt worden ist. Die Surströmming-Konserven sind deshalb für ihre Ausbeulungen bekannt (so bekannt, dass mehrere Fluglinien die Dosen wegen angeblicher Explosionsgefahr nicht mehr transportieren).
Welche besonderen Substanzen den charakteristischen Surströmming-Geruch ausmachen, hat ein mutiges Forschungsteam von der Università Politecnica delle Marche in Italien im Jahr 2020 untersucht. Die Forschenden fanden eine »erhebliche Menge von Trimethylamin und Schwefelkomponenten« vor. Trimethylamin riecht extrem stark, man nimmt die Substanz bereits wahr, wenn sie in minimalen Konzentrationen zwischen 0,008 und 1,7 ppm (Teilen pro Million) in der Luft vorkommt. Daher reicht es vermutlich nicht aus, den Fisch mit offenem Mund zu verzehren, um das Gammelaroma aus dem Nasenraum zu vertreiben.
Gestank signalisiert Gefahr
Doch das ist auch nicht Sinn der Sache. Es ist zunächst einmal ein Glück, dass Trimethylamin so stark riecht, denn das Gas reizt schon in Konzentrationen von 20 ppm die Atemwege und kann im schlimmsten Fall einen Atemstillstand verursachen. Dasselbe gilt für das Gas Schwefelwasserstoff, das von faulen Eiern ausgeht. Wenn es sein muss und kulinarisch angezeigt ist, kann der Mensch diese Warnungen mit etwas Training aber offenbar in den Wind schlagen. Vor einer riskanten Gewöhnung muss man dabei keine Angst haben: Die Geruchsbelästigung ist extrem unangenehm, bevor das Gas tatsächlich lebensgefährlich wird.
Ähnlich polarisierend wie der traditionelle Surströmming ist die berühmte Durianfrucht aus Südostasien. Dort, wo die Pflanze verbreitet ist, gilt das süße, weiche Fruchtfleisch als Delikatesse. Wer diesen Snack nicht von klein auf kennt, beschreibt das eigenwillige Aroma hingegen eher als abstoßend. Die Pflanze beherbergt ein ganzes Sammelsurium an unterschiedlichen Aromamolekülen: Wissenschaftler haben eine Mischung aus Karamell-Noten, fruchtigen Aromen und dem Geruch nach Zwiebeln identifiziert. 2016 ermittelte ein Team der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie in Freising, dass zwei Schlüsselkomponenten ausschlaggebend für das charakteristische Aroma sind: die fruchtig riechende Substanz Ethyl-(2S)-2-methylbutanoat und das nach gerösteten Zwiebeln duftende Molekül 1-(Ethylsulfyl)ethan-1-thiol. Hier bestimmen also nicht solche Stoffe den Geruch, die von sich aus Gefahr signalisieren; vielmehr ist die besondere Kombination der verschiedenen Aromen für die meisten Menschen gewöhnungsbedürftig.
Eine Durianfrucht genussvoll zu verspeisen, ist damit reine Übungssache. Wer jedoch fleißig übt, wird schließlich durch eine weitere Sinneswahrnehmung belohnt: Durian schmeckt sehr süß, Surströmming übrigens nach Umami. Das ist womöglich auch der Grund dafür, dass es vermutlich nie Air-up-Flaschen mit den Duftnoten Durian oder Surströmming geben wird. Es fehlt einfach die Belohnung dafür, dass man den Geruch erträgt.
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