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Finales Kernkraft-Aus: Unser Problem ist nicht der Atomausstieg

Am 15. April endet eine Ära in Deutschland. Wer das aus Klimaschutzsicht bedauert, übersieht einige wichtige Punkte und einen ganz zentralen, sagt Christian Schwägerl. Ein Gastkommentar.
Das AKW Grafenrheinfeld ist bereits seit 2015 stillgelegt
Die Kernkraft wird in Deutschland seit Jahrzehnten stiefmütterlich behandelt. Für das Klima ist das wahrscheinlich nicht ideal. Viel schwerer aber wiegt das mangelnde Engagement bei den Erneuerbaren.

Der 15. April 2023 wird in Deutschland viele Emotionen freisetzen, so viel ist sicher. Atomkraftgegner dürfen nach 50 Jahren Protest erleben, wie die vorerst letzten drei Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Polizisten werden sich mit Unbehagen an die gescheiterten Versuche des Staats erinnern, den Konflikt um die Nutzung der Atomkraft zu befrieden. Wirtschaftsvertreter werden das Kernkraft-Aus öffentlich bedauern und sich um steigende Strompreise sorgen.

Und jene Parteien, die heute vehement fordern, doch an der Atomkraft festzuhalten, werden weiter mit ihrer eigenen Entscheidung hadern müssen – hatten sie doch den Ausstieg 2011 im Bundestag mit schwarz-gelber Mehrheit selbst beschlossen. Ihre Nachfolger haben die damals gesetzte Frist lediglich um dreieinhalb Monate verlängert, um die befürchteten Engpässe im Krisenwinter 2022/23 abzufangen. Die sind allerdings ausgeblieben, insofern mischt sich auch Erleichterung in den Reigen der aktuellen Gefühle.

Kaum zu glauben, dass bei so viel Emotion die Kernkraftnutzung in Deutschland anfangs ein durch und durch rationales Projekt war. Der 1938 in Berlin entdeckten Kernspaltung schien aus technisch-wissenschaftlichem Kalkül heraus die Zukunft zu gehören. Zuerst entstanden reihenweise Kernforschungszentren, dann ging zwischen 1966 und 1989 fast jedes Jahr ein Reaktor ans Netz, und sogar ein Atomfrachter wurde auf die Meere geschickt, die »Otto Hahn«. Schon früh diente der Klimaschutz als Argument für die Atomkraft: »Wer mehr Kohle verbrennen will, ist ein Verbrecher an unseren bioklimatischen Verhältnissen und an der nächsten Generation«, sagte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß 1987 in einer Fernsehdiskussion.

Im Grunde schleicht sich Deutschland seit den 1980er Jahren aus der Kernkraft

Doch die Kernkraft hatte in Deutschland keine Zukunft. Dafür war der Widerstand in der Gesellschaft mitverantwortlich, den die Grünen ins Parlament trugen, ebenso wie kühle wirtschaftliche Erwägungen. Schon in den 1980er Jahren gingen aber auch Regierung und Energiekonzerne die eigentlich notwendigen Schritte für einen Ausbau der Kernkraft nicht mehr mit: keine Wiederaufbereitungsanlage, keine Schnellen Brüter – und schon seit 1990 auch keine neuen Reaktoren mehr, auch als es noch möglich gewesen wäre. Seitdem verwaltet Deutschland im Grunde nur noch die Restlaufzeiten seiner AKW. Über einen Anteil von 32 Prozent am Stromverbrauch kam die Kernkraft nie hinaus. Und der Stromverbrauch, das wird oft vergessen, macht wiederum nur ein Fünftel des gesamten Energieverbrauchs aus.

Warum weiter Kohle, aber keine Kernkraft?

Trotzdem ist die Frage natürlich berechtigt, ob man angesichts der existenziellen Gefahren durch den Klimawandel nicht eine andere Reihenfolge für den Umstieg auf erneuerbare Energien hätte wählen müssen: als Erstes raus aus der CO2-intensiven Kohlekraft, dann aus der Erdgasverbrennung – und erst zuletzt aus der Kernkraft. Die bisherige Atomkraftnutzung verlief in Deutschland weitgehend unfallfrei, die Gefahr eines GAUs bestand nie. Und einige Betriebsjahre mehr hätten die Menge an Atommüll nur unwesentlich vergrößert.

Wer den Weiterbetrieb der AKW fordert, müsste ehrlich sagen, dass die Anlagen womöglich auf ungewisse Zeit gar nicht zur Verfügung stehen

So kann man argumentieren. Aber vielfach werden dabei – neben der nach wie vor ungelösten Langzeitdeponierung des Abfalls – wichtige Faktoren übersehen. Zum einen ist der CO2-Ausstoß aus Kohlekraftwerken bereits längerfristig eng limitiert. Für jede Tonne Treibhausgas müssen die Betreiber ein Zertifikat erwerben – und wenn heute mehr Kohlestrom eingesetzt wird, stehen anderswo oder in den Folgejahren weniger Erlaubnisscheine zur Verfügung. Die Gesamtmenge an Emissionen wird über mehrere Jahre hinweg begrenzt. Wer sie erhöhen und zusätzliche CO2-Zertifikate auf den Markt werfen wollte, wäre mit heftigem Widerstand konfrontiert.

Zudem sind Kernkraftwerke komplexe technische Anlagen. Die periodische Sicherheitsüberprüfung der drei verbliebenen Anlagen ist seit 2019 überfällig. In Neckarwestheim wurden etwa bereits 35 Probleme im Rohrsystem entdeckt. Die drei verbleibenden Reaktoren müssten zuerst in eine unabsehbar lange Generalrevision. Wer den Weiterbetrieb fordert, müsste ehrlich sagen, dass die Anlagen womöglich auf ungewisse Zeit gar nicht zur Verfügung stehen – oder dass auf eine grundlegende Sicherheitsüberprüfung verzichtet werden soll. Wie so oft in der Energiedebatte ist die Realität komplizierter, als plakative Forderungen es erkennen lassen.

Ein Weiterbetrieb bräuchte neue Reaktoren

Die einzig wirklich relevante Frage im Umgang mit der Kernkraft ist, ob man jetzt auch in Deutschland neue Reaktoren bauen sollte, wie das manche andere Länder machen. Dabei muss man aber berücksichtigen, dass von der Antragstellung bis zur Inbetriebnahme 15 bis 20 Jahre vergehen und viele der aktuellen Neubauprojekte in anderen Ländern von Verzögerungen und Kostenexplosionen geplagt sind. Ob überhaupt ein Energieunternehmen in Deutschland einen Neubau wagen würde, wenn es Baukosten, Unfallhaftung und Entsorgung selbst bezahlen müsste, ist mehr als zweifelhaft.

Zusätzlich gälte es, die Neureaktoren so auszulegen, dass sie in Trockenzeiten nicht stillgelegt werden müssen. Frankreich ist hier ein warnendes Beispiel: 2022 war es deutscher Ökostrom, der die Stromversorgung des Landes sicherstellte. Als Strategie für einen garantierten und preisgünstigen Beitrag zur Klimaneutralität erscheint die Kernkraft alles zusammengenommen sehr riskant.

Deutschland schaut in der aktuellen Situation deshalb am besten nach vorn: Wer auf zentrale Großkraftwerke setzt, hat mit der Kernfusion ein zukunftsgewandtes Projekt. Es gibt sogar Pläne, die bisherigen AKW-Standorte für die ersten Fusionskraftwerke zu nutzen. Bei diesen Anlagen fällt weder CO2 an noch langlebiger Atommüll, und ein GAU ist technisch ausgeschlossen. Vor allem aber gilt es, die zahlreichen eklatanten Rückstände bei der Energiewende aufzuholen. Denn anders als deren lautstarke Fürsprecher behaupten, ist Deutschland nicht auf dem Weg dahin, sich ganzjährig, rund um die Uhr und in jeder Wetterlage mit Ökostrom versorgen zu können. Dazu braucht es deutlich mehr als nur den Zubau neuer Wind- und Solaranlagen. Es braucht eine verlässliche Speicherung von Strom an besonders windigen oder sonnigen Tagen, und es braucht den Bau neuer Stromleitungen, um den Ökostrom überregional zu verteilen.

Versagt wurde über Jahre bei der Energiewende

Hier liegt der größere und für die Stromversorgung wirklich gefährliche Fehler der bisherigen Energiepolitik: Man hat die Herstellung von Komponenten für erneuerbare Energie fahrlässig nach China abwandern lassen, die Mühen gescheut, neue Stromleitungen in der Bevölkerung durchzusetzen, und den Aufbau einer Speicherinfrastruktur verschleppt.

Am selben Tag, an dem die schwarz-gelbe Bundesregierung 2011 den Atomausstieg beschloss, brachte sie auch einen beschleunigten Ausbau der Stromnetze im Dienst erneuerbarer Energien auf den Weg – passiert ist seither aber viel zu wenig. Das, und nicht der Atomausstieg, ist die eigentliche Gefahr für Energieversorgung, Wohlstand und Klimaneutralität.

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