Direkt zum Inhalt

Lobes Digitalfabrik: Auf dem Radar

Abertausende Überwachungskameras filmen den öffentlichen Raum. So nützlich sie für die Strafverfolgung sind - ihre präventive Wirkung bleibt gering.
Überwachungskameras im öffentlichen Raum

Vor wenigen Wochen kam es in der Pariser U-Bahn zu einem schrecklichen Gewaltverbrechen. Ein 22-jähriger Mann wurde am Umsteigebahnhof Châtelet – Les Halles vor den Augen hunderter Fahrgäste mit zwei Messerstichen in den Hals getötet. Das Opfer, ein aus Martinique stammender Mann, und der Täter kannten sich nicht. Laut Polizeiberichten kam es zwischen den beiden Männern am frühen Abend zu einer Rangelei. Anschließend eskalierte die Situation, der Angreifer zog ein Messer und stach zu. Während der junge Mann mit dem Tod rang, filmten Gaffer mit ihren Handykameras und verschickten Snaps, anstatt erste Hilfe zu leisten, berichtet die Zeitung "Le Parisien". Die vor Ort eintreffenden Sanitäter konnten den Mann nicht mehr retten. Er verstarb noch am Tatort.

Der Bahnhof Châtelet – Les Halles im 1. Pariser Arrondissement, an dem täglich 750 000 Fahrgäste ein- und aussteigen, ist berüchtigt für nächtliche Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Gruppen und Banden. Nach Angaben des Verkehrsverbands RATP (Régie autonome des transports Parisiens) sind an dem Drehkreuz 450 Überwachungskameras installiert. Im gesamten Metronetz überwachen 40 000 Videokameras den laufenden Verkehrsbetrieb. Die Kamerapräsenz sorgte für eine Diskussion über Videoüberwachung im öffentlichen Raum. "Man stirbt im Jahr 2018 unter den Augen der Kameras ohne Hilfe?", kommentierte ein Twitternutzer. Wie kann es sein, dass so viele Kameras auf den Tatort gerichtet sind, aber niemand eingreift? Die Sicherheitskräfte konnten den Täter fassen, ein zweiter soll auf der Flucht sein. Von der Überlegung, ob Handykameras den Voyeurismus befördern und möglicherweise die Bereitschaft zu erster Hilfe hemmen, zu trennen ist die Frage, wie effektiv Videoüberwachung in der Kriminalprävention und Strafverfolgung ist. Dazu gibt es empirische Untersuchungen.

Der britische Kriminologe Matthew P. J. Ashby hat in einer interessanten, Ende 2017 erschienenen Studie im "European Journal on Criminal Policy and Research" den Nutzen von Überwachungskameras anhand von 251 000 Vergehen und Verbrechen, die von der British Transport Police im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 im Bahnnetz registriert wurden, analysiert. Der Frage des Nutzens im Sinn eines Ermittlungswerkzeugs vorgelagert ist die, ob die Ermittler die potenziellen Kameras identifizieren, ob das Verbrechen beziehungsweise Vergehen überhaupt von den Überwachungskameras aufgezeichnet wurde und wenn ja, ob dies in hinreichender Qualität geschehen ist. Es gibt ja mannigfaltige Bilder von Überwachungskameras, auf denen man einen Täter – etwa einen Bankräuber – zwar sehen kann, die Qualität aber so minderwertig ist, dass es schier unmöglich ist, die Person zu identifizieren. Ashby wertete Dokumente der britischen Transportpolizei aus, deren Fahnder seit 2010 in den elektronischen Abschlussberichten vermerken müssen, ob die Bilder der Überwachungskameras bei der Aufklärung des Verbrechens hilfreich waren oder nicht.

Überwachungskameras machen Kriminalitätsbekämpfung zur selbsterfüllenden Prophezeiung

Das Ergebnis war erstaunlich: In 134 819 Fällen, also mehr als der Hälfte, waren Bilder überhaupt nicht verfügbar und damit nicht nützlich. In 72 042 Fällen (29,2 Prozent) war das Verbrechen nicht aufgezeichnet worden. In lediglich 72 390 Fällen (29,4 Prozent) waren die Bilder aus den Überwachungskameras für die Aufklärung des Verbrechens von Nutzen. Die Effektivität variiert dabei stark vom Delikttyp. Bei Raubüberfällen waren die Aufnahmen in 62,2 Prozent der Fälle nützlich, bei Drogendelikten lediglich bei 10,7 Prozent. Auch Laden- oder Fahrzeugdiebstähle sowie sexuelle Übergriffe lassen sich den Daten zufolge mit Hilfe von Überwachungskameras effektiver aufklären als Betrug oder Sachbeschädigung. Die Wahrscheinlichkeit, einen Täter zu fassen, der einen Raubüberfall begeht, erhöht sich bei brauchbaren Aufnahmen um knapp die Hälfte. Die Studie kommt somit zu dem Ergebnis, dass Überwachungskameras bei der Aufklärung bestimmter Delikttypen nützlich sind.

Man sollte daraus aber nicht den falschen Schluss ziehen, den gesamten öffentlichen Raum mit Überwachungskameras auszurüsten, um Straftaten zu verfolgen, zumal die präventive Wirkung von Videokameras bei Gewaltdelikten gering ist (allenfalls Taschendiebe lassen sich von Kameras abschrecken). Hinzu kommt, dass Täter auf nicht oder weniger intensiv überwachte Räume ausweichen oder Anpassungsstrategien entwickeln, um etwa mit Tarnkleidung nicht erkannt zu werden. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist zudem begrenzt, wie Studienautor Ashby einräumt, so dass man von Großbritannien nicht einfach auf Frankreich oder Deutschland schließen kann. Man müsste überdies prüfen, wie valide die Kriminalstatistik ist, ob die Polizei den Nutzen der Videotechnik nicht überschätzt.

Videoüberwachung ist ein intensiver Eingriff in die Grundrechte, wie das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen betont hat, weshalb ihre Installation sorgfältig abgewogen werden sollte. Das gilt umso mehr, wenn "intelligente" Videotechniken wie das Gesichtserkennungssystem am Berliner Bahnhof Südkreuz in Betrieb genommen werden, weil die biometrische Erkennung und der automatisierte Datenbankabgleich in ihrer Eingriffsintensität ungleich höher sind. Sicherheit ist kein "Supergrundrecht", wie Exbundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) erklärte.

Der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar schreibt in seinem Buch "Trügerische Sicherheit": "Über das Fernsehen und das Internet verbreitete Videosequenzen prägen zunehmend unser Bild darüber, wie es um die Sicherheit bestellt ist – viel stärker als die trockenen Zahlen jeder Kriminalstatistik. Und da immer mehr öffentliche Räume mit immer leistungsstärkeren Videokameras überwacht werden, nimmt auch die Zahl der aufgezeichneten und veröffentlichten Tatverläufe zu. Die so erzeugten visuellen Eindrücke erklären zu einem Teil die zunehmende Kriminalitätsangst."

Kriminalitätsbekämpfung wird damit zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Denn je mehr Kameras installiert werden, desto mehr Straftäter geraten logischerweise ins Visier und desto "erfolgreicher" erscheint die Überwachungsmaßnahme. Dass Kriminelle auch außerhalb des Radars operieren und Delikte dadurch nicht reduziert werden, scheint aus dem Blickfeld zu geraten. Eine hohe Aufklärungsquote ist kein Ruhmesblatt, wenn die Zahl der Delikte absolut gesehen hoch ist.

Videokameras an neuralgischen Punkten der Stadt wie Bahnhöfen oder öffentlichen Plätzen können ein geeignetes Instrument sein, um Straftaten aufzuklären. Doch der Mörder von Châtelet ließ sich auch von 450 Überwachungskameras nicht von seiner grausamen Tat abhalten.

Schreiben Sie uns!

2 Beiträge anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.