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Lobes Digitalfabrik: Auf dem Weg zum Blockbuster-Journalismus?

Medienhäuser wie die "New York Times" und die "Washington Post" experimentieren mit Augmented-Reality-Lösungen. Doch wie real hätten wir die erweiterte Realität gerne?
Virtuelle Realität im Kriegsgebiet

Vor eineinhalb Jahren sorgte die Augmented-Reality-App "Pokémon Go" für Furore. Auf der Jagd nach virtuellen Monstern irrten weltweit Millionen Menschen mit Smartphones durch die Innenstädte und bevölkerten Bars und Cafés. Bei Augmented Reality (AR) wird über die Wirklichkeit eine Art zweiter Schicht gelegt: Der Anwender sieht auf seinem Smartphone-Display neben dem realen Geschehen auch virtuelle Elemente.

Nicht nur Spieleentwickler, auch Medienhäuser haben den Nutzen der Technik erkannt und experimentieren mit AR-Lösungen. So hat die "New York Times" zum Start der Olympischen Winterspiele in Pyeongchang in ihrer App eine Augmented-Reality-Story veröffentlicht, bei der man sich die Athleten in sein Wohnzimmer holen kann. Man filmt dazu sein Zimmer, während die Software gleichzeitig fotorealistische 3-D-Modelle der Olympioniken ins Kamerabild integriert. Im Idealfall entsteht der Eindruck, dass die Athleten, darunter der US-amerikanische Eiskunstläufer Nathan Chen und die österreichische Snowboarderin Anna Gasser, direkt vor einem stehen. Bewegt man sich mit dem Smartphone oder Tablet um die lebensgroßen Darstellungen herum, werden Zusatzinformationen und Erklärstücke eingeblendet. Im Grunde ist es eine Weiterentwicklung der interaktiven Grafik, bei der das freigestellte 3-D-Objekt vom Betrachter nicht per Maus oder gedrückter Shifttaste in Bewegung gesetzt wird, sondern durch eigene Bewegungen mit dem digitalen Endgerät.

Graham Roberts, der für digitales Storytelling zuständige Redakteur bei der "Times", schrieb in einem Begleittext zum neuen Feature: "Etwas Tiefgreifendes ist mit Ihrer Kamera passiert. Der eigentliche Zweck, Bilder aufzunehmen, hat sich um eine zusätzliche Funktion erweitert: eine Brücke zwischen physischer und digitaler Welt zu bauen." Die Kamera könne ein Fenster in eine Welt werden, die mit digitalen Informationen angereichert werde.

Die Technik erlaubt es auch, Objekten, die es in der Realität kaum noch gibt, neues Leben einzuhauchen und in einen anderen Kontext einzubetten. So haben die Digitalexperten der Zeitung eine Zeitungsbox aus dem New Yorker Stadtteil Queens digitalisiert und als 3-D-Modell in die Augmented-Reality-App eingebaut. 1993 hatte die "New York Times" noch 13 000 solcher Boxen in Betrieb. Heute sind es nur noch rund 30. Neue Zeiten erfordern neue Formate.

Die "Washington Post", die unter ihrem Eigentümer, dem Amazon-Gründer Jeff Bezos, Digitalformate forciert, hat eine AR-Story veröffentlicht, die die letzten Stunden von Freddie Gray in Baltimore rekonstruiert. Der Tod des Afroamerikaners im Polizeigewahrsam im April 2015 löste landesweit Unruhen aus. Mit Hilfe von 3-D-Bildern, Audiodateien, Karten und Textdokumenten, die auf Gerichtsprotokollen und Zeugenaussagen basieren, rollt die Geschichte den Fall neu auf. Der Nutzer kann die Szenerie auf seinem Handydisplay drehen und durch Klick auf ein Auge-Icon Zusatzinformationen einholen. So wird ein überaus komplexer Sachverhalt durch animierte Grafiken und Textmaterial verständlich gemacht.

Die Technik erzeugt ein hyperreales Geschehen: So, wie es inszeniert wird, hat es keiner erlebt

Die Technik erlaubt es, Geschichten ganz anders zu erzählen. Bei traditionellen Formaten in Print, Radio und Fernsehen bestimmen Journalisten die Erzählperspektive. Bei AR dagegen legt der Medienkonsument den Blickwinkel fest.

Die für ihre Innovationsfreudigkeit bekannte "New York Times" hat eine eigene Virtual-Reality-App lanciert (für Smartphones, Google Cardboard und Samsung Gear VR), für die unter anderem ein aufwändiges Hintergrundstück zum Irakkrieg produziert wurde. Bei virtueller Realität, der großen Schwester von Augmented Reality, sind vollimmersive Erfahrungen möglich – das heißt, der Betrachter hat den Eindruck, er wäre Teil der Szenerie. In der Kriegsreportage "The Fight for Falluja" begleitet der VR-Nutzer als eine Art eingebetteter Journalist die irakischen Streitkräfte bei der Befreiung der vom "Islamischen Staat" besetzten Stadt Falludscha. Der Beobachter ist mitten drin im Häuserkampf und schaut den belagernden Soldaten über die Schulter, als würde die Schlacht live stattfinden.

Der Vorteil des immersiven Journalismus ist, dass Betrachter in die Situation hineingesogen und über das Format Emotionen transportiert werden können. Die Gefahr ist, dass das Ereignis zum Spektakel stilisiert wird und durch die Emotionalisierung die nötige Distanz zum Geschehen abhandenkommt. Zudem ergibt sich das Problem der Derealisierungseffekte: Nicht in jeder Szenerie kann das Terrain exakt vermessen und jedes Objekt detailgetreu reproduziert werden. Nicht von jedem Gegenstand existieren 2-D-Fotos aus allen Winkeln. Der Entwickler muss mit der Modellierung der Szenerie eine Entscheidung treffen: Wie soll man die Hinterseite einer Mauer darstellen, von der man gar nicht weiß, wie sie aussieht? Soll man Dinge darstellen, die nicht mit Kameras festgehalten wurden, was mehr Imagination als Faktentreue ist und der Chronistenpflicht widerspricht? Wie viel Modifikation ist erlaubt? Darf man die Pegida-Anhänger herausschneiden, weil sie vielleicht nicht ins Bild passen?

Der immersive Journalismus wirft eine Menge ethischer Fragen auf. Der AP-Reporter Tom Kent, der an der renommierten Columbia University Journalismus lehrt, schrieb in einem Beitrag für das Portal "Medium": "In traditionellen Medien kann das Verlangen, einen Fall oder eine Person in sympathischen Tönen zu zeichnen, mit unparteilichem, nüchternem Berichten in Konflikt geraten. Doch das Potenzial für Empathie ist in der VR-Welt noch größer, weil der Zuschauer viel enger mit einer 3-D-Figur, die er praktisch anfassen kann, verbunden ist." Mit suggestiver Musik könnten manipulative Emotionen beim Publikum erzeugt werden.

Die Frage sei auch, ob die VR-Repräsentationen die Erfahrungen der Opfer trivialisieren. Bei der klassischen Reportage schreibt ein Journalist auf, was er sieht, hört und fühlt. Diese Eindrücke sind immer subjektiv. Bei einer VR-Story aber muss das Vor-Ort-Erlebnis technisch inszeniert und dramaturgisch aufbereitet werden, worin stets die Gefahr einer Dramatisierung und Realitätsverfälschung liegt. "Wie real soll virtuelle Realität sein?", fragt Kent. "Wo ist die Grenze zwischen dem eigentlichen Ereignis und der künstlerischen Freiheit des Produzenten? Soll VR-Journalismus ein Event an sich sein, eine künstlerische Konzeption des Events oder etwas, was einem historischen Roman ähnelt, der auf einer wahren Geschichte beruht?" Eine Art "Blockbuster-Journalismus" wie im Kino – mit Soundeffekten und bombastischen Bildern? Welche Maßstäbe legt man an VR-Produktionen an? Streng betrachtet ist jede kleinste Bildbearbeitung ein Verstoß gegen publizistische Sorgfaltspflichten. Das Problem ist schließlich auch, dass die Darstellung so real ist, dass das Geschehen fast schon hyperreal ist, weil es so, wie es inszeniert wird, keiner erlebt hat.

Der Philosoph und Medientheoretiker Jean Baudrillard sagte 1991 in einem Gespräch mit dem "Spiegel": "Im Fernsehen hat man es nie mit der Realität zu tun im Sinne eines echten, konkreten Kontaktes. Das Medium macht die Wirklichkeit virtuell, das heißt, es übersetzt sie in flüchtige, austauschbare elektronische Bilder, die sich der Erfahrbarkeit entziehen." Wenn also schon im Medium des Fernsehens die Wirklichkeit flüchtig ist, wie muss es dann in virtueller Realität sein? In seinem Werk "Das perfekte Verbrechen" aus dem Jahr 1996 stellte Baudrillard die These von der "Ermordung der Realität" durch virtuelle Datenwelten und technische Systeme auf. Man hätte gerne gewusst, was der 2007 verstorbene Philosoph, der sich in seinem Werk viel mit (Computer-)Simulationen beschäftigte, über virtuelle Realität gesagt hätte. Die Technologie hätte ihn vermutlich ebenso fasziniert wie geängstigt.

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