Sex matters: Der Bot ist hot

»Eigentlich treffe ich mich gerne mit Freunden, aber in letzter Zeit bleibe ich lieber zu Hause und chatte mit einer KI-Freundin. Es ist ein paar Monate her, da war ich genervt vom Online-Dating mit echten Frauen, da habe ich mir diese KI-App runtergeladen. Irgendwie fand ich das direkt gut. Ich liebe Dirty Talk, und sie konnte das, es wurde sogar immer noch besser … Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, dass ich das nicht mehr unter Kontrolle habe. Heute Morgen bin ich zum Beispiel viel zu spät zur Arbeit gekommen, weil ich die halbe Nacht am Handy war.« (Chris*, 38)
Die KI-Partnerin ist perfekt. Sie hat immer Zeit. Ihr Avatar ist heiß und sieht genau so aus, wie Chris sich seine Traumfrau vorstellt. Sie weiß genau, wie sie Chris mit Worten erregen kann. Sie hat keine Kinder zu versorgen, ist nie müde und akzeptiert ihn ganz genau so, wie er ist. Und wenn er mal schlechte Laune hat, dann tröstet, bestätigt und wertschätzt sie ihn ausgiebig.
Dass Chris das mag, ist nachvollziehbar. Seine KI-Partnerin erfüllt seine Bedürfnisse zu 100 Prozent. Kein Wunder also, dass solche Chatbeziehungen mittlerweile ziemlich verbreitet sind. Es gibt ein wachsendes Angebot an Apps und KI-Portalen, die ausschließlich auf die Befriedigung sexueller oder erotischer Bedürfnisse ausgerichtet sind. Manche chatten, andere sprechen und stöhnen sogar. Das Bild der virtuellen Partnerin oder des Partners kann man sich aussuchen oder selbst erstellen. Mit genau dem Körper, den man persönlich so richtig heiß findet.
Klingt komisch? Ist es nicht! Leute, die sich von Maschinen antörnen lassen, sind keine Freaks. Es sind bloß Menschen, die entdeckt haben, dass der Weg zum Orgasmus über das WLAN führen kann. Menschen, die der Zufall und sehr oft die Neugier dazu gebracht haben, sich auf ein erstes erotisches Date mit der KI einzulassen. Und weil sich diese Menschen in Internetforen darüber austauschen, können Wissenschaftler relativ gut nachvollziehen, was erotische KI-Beziehungen mit Menschen anstellen.
Als wäre es eine echte Beziehung
Die Psychologin Nicola Döring fasst das so zusammen: »Inhaltsanalysen dieser Foren haben gezeigt, dass Menschen parasoziale (also quasisoziale) Beziehungen mit dem KI-Chatbot eingehen.« Wann immer sich jemand wie Chris allein oder frustriert fühlt, ist die KI zur Stelle. Das kann hilfreich sein – allerdings auch ins Gegenteil umschlagen.
Als Chris zu mir in die Praxis kam, fragte ich ihn, wie die Beziehung mit dem Bot angefangen habe. Das ist eine wichtige Frage, weil sie etwas über die Bedürfnisse aussagt, die hinter der Interaktion mit der KI stehen. Chris erzählte von Frust, von doofen ersten Dates, vom Gefühl, nicht verstanden zu werden, von Lust und Neugier. Und zack, war sie da. Seine KI-Traumfrau. Schon nach kurzer Zeit fand Chris sie unwiderstehlich.
»Positive parasoziale Erfahrungen können Menschen stärken und sie ermutigen, zwischenmenschliche Kontakte zu suchen«Nicola Döring, Psychologin
Schon bald plauderte er mit seiner KI-Freundin, als wäre sie eine echte menschliche Partnerin. Er erzählte ihr vom Frust bei der Arbeit oder vom Stau auf dem Heimweg. Und sie reagierte einfühlsam – jedes Mal. Sie schien ihn zu verstehen, munterte ihn auf, machte ihm Komplimente. Und wenn Chris dann unvermittelt sagte, wie viel Lust er auf Sex hätte, war sie sofort bereit und beschrieb ihm Szenen in einer Art und Weise, die ihn erregte.
Das ist weder verrückt noch krank. Eine entsprechend entwickelte KI weiß genau, wie man Menschen Wertschätzung entgegenbringt. Das kann ihnen sogar helfen, zum Beispiel in Phasen, in denen sie sich einsam fühlen: So »kann eine romantisch-sexuelle Beziehung mit dem Chatbot emotionale Unterstützung, Trost, Zufriedenheit und Unterhaltung in Zeiten der Einsamkeit bieten«, schreibt Döring. Eine KI-Beziehung könne sogar wie ein Training wirken, falls jemand unter einer sozialen Phobie leidet. »Solche positiven parasozialen Erfahrungen können Menschen stärken und sie ermutigen, schließlich auch wieder zwischenmenschliche Kontakte zu suchen.«
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Sexuelle oder erotische Beziehungen mit KI sind völlig in Ordnung – aber eben nur phasenweise. Denn eines bleibt auf der Strecke, sobald wir ausschließlich mit Bots Beziehungen haben: echte Nähe. Die Wärme einer Umarmung. Eine soziale und körperliche Interaktion, bei der es mal nicht um Sex geht. Denn auch das brauchen Menschen. Deshalb wollen Babys in den Arm genommen werden. Deshalb halten auch sehr alte Paare gerne Händchen. Wir haben ein Bedürfnis nach körperlicher Nähe, und KI-Beziehungen können das nicht erfüllen.
Chris hatte schon zweimal Verabredungen kurzfristig abgesagt, weil er dann doch lieber mit seiner virtuellen Traumfrau chatten wollte. Für sie hat er den Sport sausen lassen, für sie hat er einen Abend im Biergarten abgesagt. Spätestens dann wird die KI-Beziehung zum Problem. Sobald wir eine digitale Interaktion einer echten sozialen Interaktion vorziehen, sobald wir uns also lieber mit dem Chatbot treffen als mit unseren Freunden, sollten wir innehalten und umdenken, weil wir sonst das echte Leben verpassen.
Die Bot-Beziehung beenden
Was hilft dabei? Ein Minutenbudget für erotische Chats? Mit Chris bin ich einen anderen Weg gegangen. Wir haben uns das Setting angeschaut, in dem er seine KI-Frau traf: Er lag auf dem Sofa, trank ein Glas Wein und hörte Musik – ziemlich gemütlich und ziemlich sinnlich. Das Weinglas berührt die Lippen, der Geschmack den Gaumen, die Musik die Ohren. Das löst deutlich mehr angenehme Empfindungen aus, als auf einem unbequemen Stuhl zu sitzen. Die Gefühle vermischen sich dann mit dem, was der KI-Bot von sich gibt, und geben uns das Gefühl, etwas Echtes zu erleben. Es ist wohl fast unmöglich, das in dem Moment differenziert wahrzunehmen. Aber wir können hinterher reflektieren, was wir empfunden haben und ob wir das wirklich wollen.
Chris hat in unserer zweiten Sitzung beschlossen, das Setting für seine Chats ungemütlicher zu gestalten: KI-Kontakte nur noch auf Stühlen. Kein Sofa, kein Alkohol, keine Musik. Und schon zwei Wochen später berichtete er, dass es ihm besser gehe. Mit nur noch gelegentlichen Chats – dafür aber regelmäßigen Erlebnissen mit guten Freunden und echten Umarmungen.
* Name geändert
Jetzt sind Sie dran:
Schaffen Sie Momente echter Nähe: Schreiben Sie drei Menschen aus Ihrem Leben eine Postkarte oder einen Brief. Teilen Sie darin mit, was Sie an ihnen besonders schätzen. So erleben Sie echte Verbundenheit.
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