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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte des größten biologischen Terroranschlags

Eine eigene Stadt, tägliche Paraden im Rolls-Royce und Sexguru – Bhagwan Shree Rajneesh lockte die Menschen in Scharen, doch als seine Bewegung 1985 in den USA zerbrach, kam Ungeheuerliches ans Licht, erzählen Hemmer und Meßner.
Eine Gruppe von Menschen steht um ein Auto, das mit Blumen bedeckt ist. Eine Person in der Mitte hebt die Arme, während die umstehenden Menschen klatschen und jubeln. Die Szene spielt sich in einer bergigen Landschaft ab. Die Stimmung wirkt feierlich und freudig.
Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh steht 1984 neben einem seiner dutzenden Rolls-Royce in der US-Stadt Rajneeshpuram. Um ihn herum jubeln seine Anhänger.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Am 28. Oktober 1985 klickten auf einem Flughafen in North Carolina die Handschellen. Der prominente Passagier eines Learjets wurde verhaftet. Die Maschine sollte eigentlich nur kurz betankt werden, um dann außer Landes zu fliegen. Doch die US-Bundesluftfahrtbehörde durchkreuzte die Pläne – genauer gesagt, die Fluchtpläne.

Bhagwan Shree Rajneesh, Begründer der Bhagwan-Bewegung, wollte die nach ihm benannte Stadt Rajneeshpuram in Oregon schnellstmöglich verlassen. Kurz zuvor waren kriminelle Aktivitäten ans Licht gekommen – von einem Ausmaß, wie es die USA bis dahin noch nicht erlebt hatten.

In nur wenigen Monaten hatten Bhagwans Anhänger 1981 die Stadt Rajneeshpuram aus dem Boden gestampft. Dazu hatten sie die 26 000 Hektar große Bug Muddy Ranch gekauft, die zu einer Stadt für 10 000 Einwohner ausgebaut werden sollte. Der nächste Ort, Antelope, war 30 Kilometer entfernt und hatte gerade einmal 40 Einwohner.

Seine Anhänger, die sich Neo-Sannyasins nannten, arbeiteten rund um die Uhr in mehreren Schichten, um Straßen, Häuser und sogar ein eigenes Kraftwerk für Strom zu errichten. Dazu gab es ein Einkaufszentrum, ein Pizzabistro und einen Flughafen. Nicht zu vergessen die gigantische Meditationshalle für 10 000 Menschen.

Der spirituelle Führer der Bewegung, Bhagwan, war zu diesem Zeitpunkt in eine Schweigephase eingetreten. Er wurde 1931 als Chandra Mohan Jain in Indien geboren, studierte erst Philosophie und wurde ab 1960 Philosophieprofessor an der Universität Jabalpur. Gleichzeitig reiste er als Redner und spiritueller Lehrer durchs Land und war damit so erfolgreich, dass er bald seine Lehrtätigkeit aufgab und in Mumbai eine Gruppe Anhänger um sich scharte – finanziert von indischen Geschäftsleuten.

Bhagwans postmoderne Lehre

Es stießen immer mehr Anhänger hinzu, vor allem aus den USA und Europa, weshalb Bhagwan schließlich 1974 in der Stadt Pune einen Meditationsort gründete, seinen ersten Aschram. Dieser lief derart erfolgreich, dass Bhagwan zum spirituellen Anführer einer Bewegung aufsteigen konnte. Er und seine Anhänger nannten sich Neo-Sannyasins und fielen vor allem durch ihre rote oder orange Kleidung auf.

In nur wenigen Jahren gelang es Bhagwan, eine globale religiös-spirituelle Bewegung aufzubauen. Er war zwar nicht der erste indische Guru, der in der westlichen Welt für Furore sorgte, aber der erfolgreichste. Ende der 1970er Jahre lebten in Pune etwa 6000 Sannyasins. Aber auch international wuchs die Bewegung enorm. Im Jahr 1981 existierten 126 Aschrams in Europa, und bis Mitte der 1980er Jahre hatte sich ihre Zahl mehr als verdreifacht, berichtet der Religionswissenschaftler Hugh Urban von der Ohio State University in seinem Buch »Zorba the Buddha«.

Bhagwans Lehre war weder einheitlich noch konsistent. Ganz im Gegenteil: Sie setzte sich aus vielen Elementen zusammen, war bruchstückhaft, widersprüchlich, provokativ, aber auch an vielen Stellen humorvoll. Eine Mischung aus hinduistischen und buddhistischen Lehren mit zahlreichen Elementen westlicher Philosophien. Entscheidend war einerseits die Verbindung indischer Meditationstechniken mit westlicher Psychologie und andererseits die Verbindung zum Kapitalismus. Denn die Sannyasins sollten nicht asketisch und enthaltsam leben. Konsum war erlaubt und Bhagwan selbst bekannt für seine Sammlung teurer Uhren und dutzender Rolls-Royce.

Bhagwan lehrte sexuelle Freizügigkeit, weshalb er als Vertreter des Neotantras gilt und in den Medien bald als Sexguru bekannt wurde. Inzwischen sind allerdings die verheerenden Schattenseiten dieser propagierten Freizügigkeit ans Licht gekommen, unter anderem Berichte über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der Bhagwan-Bewegung.

Erst eine ganze Stadt …

1981 folgte der Umzug nach Oregon. Die Ranch hieß jetzt Rajneeshpuram und sollte sich zur Stadt auswachsen. Die Menschen in Antelope hingegen waren in Schockstarre. In ihrem kleinen, beschaulichen Ort liefen jetzt hunderte rot gekleidete Sannyasins herum. Konnte man die nicht wieder loswerden? Die Bewohner versuchten es mit Hilfe der Landnutzungsbestimmungen. Demnach durfte die Ranch nur mit einer kleinen Zahl Häuser für maximal sechs Bewohner bebaut werden. Würde das Gericht der Argumentation folgen, müssten die neuen Gebäude wieder abgerissen werden.

Vor Gericht | Bhagwans Sekretärin Ma Anand Sheela (rechts) und ihre Kollegin Ma Anand Puja werden im Juli 1986 in Portland vor Gericht gebracht. Zur Anklage kam es wegen des Salmonellenausbruchs in The Dalles.

Spätestens jetzt rückte eine Person ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die die Bhagwan-Bewegung nach außen repräsentierte: Ma Anand Sheela, die persönliche Sekretärin Bhagwans. Der Guru selbst schwieg weiterhin, traf sich aber jeden Abend mit Sheela, um das weitere Vorgehen in Rajneeshpuram zu besprechen. Ihr Auftreten war recht charismatisch und sie provozierte häufig, was ihr Aufmerksamkeit und zahlreiche Einladungen in Talkshows einbrachte. Die Sannyasins beschlossen: Wenn wir keine eigene Stadt haben können, dann holen wir uns einfach die nächstgelegene – Antelope.

Die Neo-Sannyasins kauften daraufhin Gebäude, um bei der nächsten Wahl den Stadtrat von Antelope zu übernehmen. Da dort nur 40 Menschen lebten, würde ihnen das nicht schwerfallen. Die Bürgermeisterin von Antelope sah sich daher zu einem radikalen Schritt gezwungen. Sie stellte die Auflösung von Antelope als Stadt zur Wahl. Doch es war zu spät: Mit 55 zu 42 Stimmen triumphierten die Sannyasins, die kurz darauf auch die Mehrheit im Stadtrat übernahmen – und den Namen der Stadt änderten: aus Antelope wurde Rajneesh. Die Polizei erhielt rosafarbene Uniformen und wurde zur Peace Force.

… dann ein ganzes County

Das rief nun Mitte 1983 den Attorney General von Oregon, David Frohnmayer, auf den Plan. Er legte eine Klage vor und beschuldigte die Sannyasins, gegen die »Establishment Clause«, die Trennung von Staat und Kirche in der US-Verfassung, zu verstoßen. Die Sannyasins fühlten sich erneut in ihrer Existenz bedroht, weshalb Sheela im September 1984 das »Share a Home«-Programm initiierte. Überall im Land suchte man Obdachlose, drückte ihnen Bustickets in die Hand, mit denen sie nach Rajneeshpuram kommen sollten. Tausende tauchten bald in Oregon auf. Ihre Aufgabe? Wählen! Im November 1984 sollten Wahlen in Wasco County stattfinden. Diese Aktion erregte die Aufmerksamkeit der gesamten USA: »Okay«, dachte man sich wohl, »sie haben eine Stadt übernommen. Aber ein ganzes County? Ist als Nächstes der State dran?«

40 Tage vor der Wahl fuhr der erste Bus aus Rajneeshpuram nach The Dalles, damit sich die Fahrgäste in der dortigen County-Behörde registrieren konnten. Doch der Zugang wurde ihnen verweigert. Die Registrierung neuer Wähler wurde kurzerhand geschlossen. Ein harter Schlag gegen die Sannyasins. Sie zogen ihre Kandidaten schließlich von der Wahl zurück – und boykottierten sie. Der Versuch, Wasco County zu übernehmen, war gescheitert.

Ungefähr 30 Tage vor der Wahl setzte eine ungewöhnliche Krankheitswelle in The Dalles ein. Dem Gesundheitsamt wurden zahlreiche Fälle von Übelkeit und Magen-Darm-Beschwerden gemeldet. Die Behörde stellte einen Salmonellenausbruch fest, von dem mehrere Restaurants betroffen waren. 751 Menschen litten an Salmonellenvergiftung, mehr als 40 mussten im Krankenhaus behandelt werden.

Bioterrorismus an der Salatbar

Was damals niemand ahnte: Die Salmonellen waren keine Folge eines Hygieneproblems, und die verlorene Wahl markierte den Anfang vom Ende der Bhagwan-Bewegung in Oregon.

Der Fund eines Labors bestätigte die allerschlimmsten Befürchtungen

Im Streit mit Bhagwan verließ Sheela ein Jahr später, im September 1985, Rajneeshpuram und ging nach Deutschland. Daraufhin überschlugen sich die Ereignisse. Bhagwan kündigte nach jahrelangem Schweigen an, wieder öffentlich zu sprechen. Doch seine ersten Worte hatten nichts mit seiner Lehre zu tun. Es war eine bitterböse Anklage: Er beschuldigte Sheela, an schweren Straftaten beteiligt gewesen zu sein, darunter Mordversuche.

Die schwerwiegenden Vorwürfe riefen die US-Behörden auf den Plan. Frohnmayer richtete eine Taskforce ein, an der sich auch das FBI beteiligte. Anfang Oktober 1985 begannen 50 Beamte in Rajneeshpuram zu ermitteln. Sie wurden bald in einem Ausmaß fündig, das niemand für möglich gehalten hatte. Sie fanden tausende Kassetten und deckten damit einen der größten Abhörskandale der US-Geschichte auf. Im Telefonsystem von Rajneeshpuram war eine Abhöranlage installiert worden, zudem waren zahlreiche Häuser verwanzt.

Die Ermittler entdeckten auch ein Labor, in dem man Salmonellen gezüchtet hatte. Der Fund bestätigte die allerschlimmsten Befürchtungen: Der Salmonellenausbruch in The Dalles war ein gezielter Anschlag auf die Bevölkerung gewesen. Die Bakterien wurden vorsätzlich in den Salatbars von Restaurants verteilt – mit der Absicht, die Menschen krankzumachen und zu testen, ob man sie so von einem Urnengang abhalten konnte. Bis heute handelt es sich um den größten bioterroristischen Angriff in der Geschichte der USA.

Das war jedoch noch längst nicht alles: Auch der Verdacht, Sheela habe einen Mordversuch geplant, bestätigte sich. Ebenso kam heraus, dass die Obdachlosen unbemerkt sediert worden waren. Man hatte ihnen das NeuroleptikumHaloperidol ins Bier gemischt.

Bhagwan ging nach seiner Verhaftung einen Deal mit den Behörden ein und wurde ausgewiesen. Sheela wurde in die USA ausgeliefert, wo ihr in Portland der Prozess gemacht wurde. Sie bekannte sich schuldig und wurde nach viereinhalb Jahren aus der Haft entlassen. Danach ging sie in die Schweiz. Rajneeshpuram wurde zur Geisterstadt und aus Bhagwan Shree Rajneesh wurde Osho. Er eröffnete erneut einen Aschram in Pune, wo er im Januar 1990 starb. Der Aschram existiert bis heute als OSHO International Meditation Resort.

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  • Quellen
Urban, H.B., Zorba the Buddha, 2016

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