Vorsicht, Denkfalle!: So real wie ein Regenbogen

Sie kennen sicher die fünf Eigenschaften der Persönlichkeit, auch Big Five genannt. Oft werden sie auch als OCEAN abgekürzt: O für Offenheit, C für Gewissenhaftigkeit (englisch: conscientiousness), E für Extraversion, A für Verträglichkeit (agreeableness) und N für Neurotizismus (psychische Labilität).
Das verstehen viele so, als seien diese »großen Fünf« – und genau sie – unsere Persönlichkeit. Als trage jeder von uns einen bestimmten Vorrat an Extraversion, Offenheit, Freundlichkeit und so weiter in sich.
Doch leider versteht man die Lage völlig falsch, wenn man jene handlichen Schubladen, nach denen Psychologen verschiedenste Phänomene sortieren, für die Phänomene selbst hält. Und dieses Missverständnis kann gravierende Folgen haben.
Reifikation: Verdinglichen, was kein Ding ist
Der britische Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947) sprach bereits vor 100 Jahren vom »Fehlschluss der deplatzierten Konkretheit«. Andere nennen es Reifikation, abgeleitet von den lateinischen Wörtern für »Sache« (res) und »machen« (facere). Gemeint ist das Verdinglichen von Dingen, die gar keine Dinge sind.
Ein schönes Beispiel: der Regenbogen. Alles, was hier »Ding« ist, sind Regentröpfchen im Sonnenlicht. Der bunte Bogen aber, so gegenständlich er erscheint, entsteht aus der Betrachtungsweise.
Psychologische »Gegenstände« können Sie sich wie Regenbögen vorstellen. Egal ob Resilienz, Stress, Trauma, Empathie, Selbstwert, Gewissen oder die berühmten Big Five: Sie alle sind Beschreibungen – keine naturgegebenen Tatsachen. Es mag jeweils gute Gründe geben, manches Verhalten und Erleben gerade so und nicht anders zu fassen. (Die Kriterien dafür aufzudröseln, würde hier zu weit führen.) Aber im Prinzip geht es in jedem einzelnen Fall auch anders.
- Der fundamentale Attributionsfehler
- Die Normalitätsverzerrung
- Der Rückschaufehler
- Die Wissensillusion
- Die Verlustaversion
- Die Fokussierungsillusion
- Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom
Warum ist das wichtig? Weil Dinge unabhängig von der Betrachtungsweise bestehen – sodass man schnell Schimären nachjagt, wenn man sich fragt, weshalb dieses oder jenes über einen gekommen ist. Wer etwa Diagnosen wie Depression oder ADHS verdinglicht – sie sich etwa wie Aliens vorstellt, die ihr Unwesen in einem treiben –, der verkennt, dass es sich »nur« um abstrakte Schubladen handelt, die zu einem einzigen Zweck konstruiert wurden: Sie sollen eine passende Behandlung ermöglichen. Aber in der Form, wie es Pickel im Gesicht oder Hornhaut an den Füßen gibt, existieren sie nicht.
Was wiederum nicht heißen soll, dass Diagnosen keine Grundlage haben oder psychische Probleme verschwinden, sobald man sie nur anders betrachtet. Doch das Verdinglichen kann selbst Leid fördern und verfestigen, weil man dann »etwas« hat.
Big Five? Wie viele Persönlichkeitseigenschaften soll es geben?
Auch die Persönlichkeit von Menschen lässt sich statt mit 5 ebenso gut mit 3, 7 oder 19 Eigenschaften beschreiben. Selbst die Unterscheidung von nur zwei Dimensionen erweist sich als tragfähig. Das wurde bereits vielfach bestätigt, unter anderem kürzlich von einem Team um die Psychologin Amber Gayle Thalmayer von der Universität Zürich. Menschen in verschiedenen Kulturen unterscheiden sich (und andere) in »agency« und »communion«, frei übersetzt: Kompetenz und Wohlwollen.
Das liegt vermutlich daran, dass wir sicher durch den sozialen Kosmos navigieren wollen. Und dafür müssen wir vor allem zweierlei wissen: Wer kann was? Und wer meint es gut?
Bleibt mir nur zu hoffen, dass Sie hochkompetent und wohlwollend mit diesen freundlichen Hinweisen umgehen!
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