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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Ist die Mathematik schuld am schlechten Wetter?

Manchmal ist das Wetter so schlecht, man würde am liebsten ans andere Ende der Welt flüchten. Doch dort sieht es nicht unbedingt besser aus, wie der Satz von Borsuk-Ulam belegt.
Mädchen im Regenmantel auf überfluteter Straße

Im Jahr 2021 habe ich einen Zeitraum mit niedrigen Corona-Inzidenzen genutzt, um Urlaub in Andalusien zu machen. Unter anderem hat die Reise nach Córdoba geführt, der ehemaligen Hauptstadt des umayyadischen Kalifats im 10. und 11. Jahrhundert. Während ich dort die maurischen Bauwerke bewunderte, kam mir wieder in den Sinn, dass diese Stadt neben ihren faszinierenden kulturellen Stätten eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft hat: Würde man einen Tunnel durch die Erde graben, würde man in Hamilton, Neuseeland, landen, etwa 100 Kilometer südlich von Auckland. Das macht die beiden Orte extrem besonders, denn nur wenige Punkte auf der Erde haben bewohnbare »Antipoden«, die exakt am anderen Ende der Welt liegen.

Hätte ich in in der andalusischen Stadt die genaue Temperatur und den dort herrschenden Luftdruck bestimmt, wäre es möglich, dass zu diesem Zeitpunkt in Hamilton genau die gleichen Wetterverhältnisse geherrscht hätten. Zufall? Nicht ganz.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Tatsächlich folgt aus rein mathematischen Überlegungen, dass es auf der Erde stets Antipoden gibt, bei denen das der Fall ist: Dort ist es ebenso warm oder kalt und der Luftdruck ist identisch. Als ich das zum ersten Mal hörte, war ich skeptisch. Wie kann eine Wissenschaft, die sich mit abstrakten Strukturen wie Zahlen, Matrizen oder geometrischen Räumen beschäftigt, etwas über die Wetterlage auf der Erde aussagen? Und doch lässt sich dieser seltsame Umstand zweifelsfrei belegen. Es ist als Spezialfall des Satzes von Borsuk-Ulam bekannt, den Stanisław Ulam (1909–1984) Anfang des 20. Jahrhunderts vermutete und den Karol Borsuk (1905–1982) 1933 bewies.

Um das Theorem zu verstehen, hilft es, mit einem einfachen Gegenstand anzufangen: Anstatt die Oberfläche einer Kugel zu betrachten, startet man mit einem gewöhnlichen Kreis. Denn der Satz von Borsuk-Ulam ist so allgemein formuliert, dass er sich auf jede beliebige Dimension n verallgemeinern lässt. Für n = 1 arbeitet man also mit einer Kreislinie, zum Beispiel dem Äquator der Erde.

Antipoden | Gräbt man ein Loch durch den Mittelpunkt unseres Planeten, landet man meist im Ozean. Tatsächlich haben nur wenige Orte diametral gegenüberliegende Punkte, die bewohnbar sind.

Um geometrischen Figuren ihre Geheimnisse zu entlocken, hilft es meist, sie durch algebraische Gleichungen darzustellen. Vielleicht erinnern Sie sich ja noch an die Schulzeit, als man dazu den Graph in ein kartesisches Koordinatensystem zeichnete und daraus die zugehörige Gleichung ableitete. Für einen Kreis mit Radius r und dem Mittelpunkt im Ursprung lautet sie x2 + y2 = r2.

Nun braucht es noch eine Funktion f(x, y) – das ist einfach eine mathematische Beziehung, die jedem Punkt (x, y) auf dem Kreis (also jedem Paar (x, y), das die Kreisgleichung x2 + y2 = r2 erfüllt) eine Zahl zuordnet. Zum Beispiel indem man an jeder Stelle des Äquators die Temperatur bestimmt. Diese kann zwar unterschiedlich ausfallen, wird sich aber nicht abrupt von einem Punkt zum nächsten ändern. Eine Funktion mit solchen »sanften« Übergängen bezeichnet man als stetig.

Gemäß dem Satz von Borsuk-Ulam gibt es, sofern die Funktion der Temperatur stetig ist, zwei diametral entgegengesetzte Punkte auf dem Äquator, an denen die gleiche Temperatur herrscht. In Formeln ausgedrückt gilt also f(x, y) = f(−x, −y) für ein bestimmtes Paar von Punkten (x, y) auf dem Kreis.

Beweisen lässt sich das Ganze am einfachsten, wenn man statt f eine andere Funktion definiert: g(x, y) = f(x, y) − f(−x, −y). Diese bestimmt die Temperaturdifferenz zwischen zwei gegenüberliegenden Orten, und wenn beide Orte das gleiche Wetter haben, ist die null.

Um den Satz von Borsuk-Ulam in einer Dimension zu beweisen, muss man deswegen nur zeigen, dass unsere neue Funktion g(x, y) mindestens eine Nullstelle hat, denn dann gibt es Antipoden mit gleicher Temperatur.

Dazu betrachtet man die Funktion g am diametral entgegengesetzten Ort (−x, −y): g(−x, −y) = f(−x, −y) − f(x, y) = − g(x, y). Das heißt, wenn g(x, y) den Temperaturunterschied von 3 Grad Celsius verzeichnet, dann beträgt der Temperaturunterschied bei g(−x, −y) minus 3 Grad Celsius. Denn, salopp gesagt, auf der anderen Seite ist der Unterschied ja der gleiche, nur aus der entgegengesetzten Perspektive betrachtet.

Diese Erkenntnis ist der entscheidende Knackpunkt des Beweises: Die Funktion g nimmt entlang des Kreises zwangsläufig mal einen positiven, mal einen negativen Wert an – oder bleibt immer null. Wenn Letzteres der Fall ist, dann haben alle Orte die gleiche Temperatur. Und weil sich g aus stetigen Funktionen f zusammensetzt, ist sie ebenfalls stetig und besitzt daher zwingend eine Nullstelle.

Zeichnet man ohne abzusetzen – denn das heißt stetig – eine Kurve, die im negativen Bereich startet und im positiven endet, dann durchquert man zwangsläufig die Null. Gleiches gilt für die Temperaturdifferenz g: Entlang des Kreises wird sie irgendwann null. Und da sie den Temperaturunterschied zwischen zwei entgegengesetzten Punkten beschreibt, muss es an dieser Stelle eine Antipode mit gleicher Temperatur geben.

Zwischenwertsatz | Wenn eine stetige Funktion mal den Wert f(a) und mal f(b) annimmt, muss sie jeden Wert s zwischen f(a) und f(b) auch im Intervall [a, b] annehmen.

Das Bemerkenswerte an dem Satz von Borsuk-Ulam ist, dass er so allgemein gehalten ist. Der Beweis funktioniert für jede stetige Funktion, also für alle Eigenschaften, die kontinuierlich von Ort zu Ort variieren, sei es die Temperatur, der Luftdruck oder die Luftfeuchtigkeit. Es gibt immer Antipoden auf dem Äquator, die diese Merkmale teilen.

In höheren Dimensionen folgen die Beweise einem ähnlichen Schema. Für den Fall einer Kugeloberfläche ordnet man dieser eine zweidimensionale stetige Funktion zu. Ein Beispiel dafür ergibt sich, wenn man an jedem Ort auf der Erde die Temperatur und den Luftdruck bestimmt. Das Ganze lässt sich auch in n-Dimensionen durchspielen: Auf jeder n-dimensionalen Sphäre gibt es Antipoden, bei denen eine stetige Funktion den gleichen n-dimensionalen Wert liefert.

Wenn Sie sich also mal über das Wetter ärgern, stellen Sie sich einfach vor, dass am entgegengesetzten Ende der Welt womöglich die gleichen Witterungsbedingungen herrschen – und dass allein die Mathematik daran schuld ist. Leider spendet dieses Wissen wohl kaum Trost, womöglich macht es das ohnehin unbeliebte Fach noch verhasster.

Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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