Die fabelhafte Welt der Mathematik: Ein Muster bricht zusammen
Eine der Fähigkeiten, die uns Menschen dazu verholfen hat, wichtige Entwicklungsschritte zu durchlaufen, ist zweifelsohne die Mustererkennung. Wir beobachten Dinge, die sich immer wieder wiederholen, und schließen daraus, dass es eine zu Grunde liegende Regel gibt, damit das auch weiterhin geschieht.
Zum Beispiel: Die Sonne geht seit Jahrtausenden im Osten auf und im Westen unter – daher nehmen wir an, dass es auch morgen und übermorgen so sein wird. Inzwischen haben wir natürlich ein Modell des Sonnensystems und können dadurch erklären, warum der Sonnenaufgang in Zukunft ebenfalls in östlicher Himmelsrichtung zu beobachten ist. Das gilt auch für diese Serie: Sie erscheint jeden Freitagmittag auf »Spektrum.de«, daher können Sie annehmen, dass Sie auch nächste Woche einen weiteren Artikel der Serie lesen können. Doch in der Mathematik sollte man sich vor voreiligen Schlüssen hüten!
Ein Beispiel für ein irreführendes Muster entwickelte der kanadische Mathematiker David Borwein (* 1924) im Jahr 2001 zusammen mit seinem Sohn Jonathan (1951–2016). Damals stellten sie mehrere Folgen von Integralen vor, welche die Fachwelt in Erstaunen versetzten. Bei einer Folge ergibt etwa das erste Integral π, das zweite ebenso, das dritte und so weiter – und auch das 56. Integral liefert den Wert π. Doch ab dem 57. Integral werden die Ergebnisse plötzlich kaum merklich kleiner – bei diesem Folgenglied weicht es um bloß 10–110 vom vorhergehenden Wert ab. Als Forscherinnen und Forscher die Gleichungen erstmals am Computer auswerteten, glaubten sie deshalb zunächst an einen Rundungsfehler.
Komplizierte Integrale tricksen unser Bauchgefühl aus
Doch tatsächlich konnten die Borweins beweisen, dass es sich dabei nicht um einen Rechenfehler handelte. Sie veröffentlichten ein Theorem, das beschreibt, wie lange ihre Integralfolgen das gleiche Ergebnis liefern, bis sie schließlich irgendwann davon abweichen. Sie lieferten sogar einen Extremfall, bei dem das Muster erst nach 10176 Resultaten zusammenbricht!
Ihr mathematischer Beweis erwies sich zwar korrekt, dennoch waren Fachleute mit der Lösung nicht ganz zufrieden. Denn er erklärt nicht, warum sich die Integrale so seltsam verhalten. Was ist der Grund dafür, dass die Folgen irgendwann ihren Wert kaum merklich ändern?
Nehmen wir einmal die einfachste Folge von Borwein-Integralen: Sie besteht aus Produkten von Sinusfunktionen, die man durch ihr jeweiliges Argument teilt: \[I_k=\int_{-\infty}^\infty \prod_{n=1}^k \frac{\sin\left(\frac{x}{2n-1}\right)}{\frac{x}{2n-1}} dx .\] Die Formel sieht als Gesamtes kompliziert aus, aber die Details spielen keine große Rolle. Relevant ist dabei vor allem das Innere der Sinusfunktion, also der Term x · 1⁄2n-1.
Wertet man nun die Integrale I1, I2, …, I7 aus, erhält man stets das Ergebnis π. Doch das achte Integral I8 weicht in der zehnten Nachkommastelle von der Kreiszahl ab. Was genau passiert beim Übergang von sieben nach acht?
Diese Frage ließ Forscherinnen und Forscher nicht mehr los. Das unerwartete Ergebnis schlug selbst außerhalb der Mathematik Wellen. Im Sommer 2019 nahmen sich die zwei Physiker Satya Majumdar und Emmanuel Trizac von der Université Paris Sud des Problems an, als ihnen auffiel, dass die seltsame Integralfolge mit einem Phänomen aus der Stochastik zusammenhängt, dem so genannten Random Walk.
Verrückte Statistiker folgen dem Zufall
Stellen Sie sich dazu einen verrückten Statistiker vor, der ein ungesundes Verhältnis zum Zufall hat und diesen sein Leben bestimmen lässt. Wenn er durch die Straßen schreitet, wirft er an jeder Abzweigung oder Kreuzung eine Münze, die ihm vorschreibt, welchen Weg er nimmt.
Da die Borwein-Integrale eindimensional sind, können sich die Statistiker ebenfalls nur in eine Dimension bewegen: entlang des Zahlenstrahls nach rechts oder links. Die zurückgelegte Distanz wählt man dabei ebenfalls zufällig aus einem Topf mit gleichverteilten Werten. Die Krux dabei: Man betrachtet nicht bloß einen, sondern unendlich viele verrückte Statistiker, die alle am Nullpunkt starten und zufälligen Schrittes durch den Zahlenstrahl schreiten.
Dabei folgen sie festen Regeln: Beim ersten Schritt können die Personen auf eine beliebige Zahl zwischen –1 und 1 springen. Das Intervall entspricht dem ersten Vorfaktor 1⁄2·1–1 = 1 in der Sinusfunktion des Integrals. Beim zweiten Schritt beträgt die Reichweite der Statistiker bloß noch ⅓, was den zweiten Vorfaktor (1⁄2·2–1) darstellt und so weiter. Nach n Schritten können sie höchstens noch einen um 1⁄2·n–1 entfernten Punkt erreichen.
Wie sich herausstellt, entspricht der Anteil aller verrückten Statistiker, die sich nach dem n-ten Schritt auf dem Nullpunkt befinden, dem Wert des n-ten Borwein-Integrals In (bis auf eine Konstante). Um also das irreführende Muster nachzuvollziehen, das so viele in der Vergangenheit erstaunt hat, muss man verstehen, wie sich die Statistiker auf dem Zahlenstrahl verteilen.
Am Anfang befinden sich alle Statistiker auf dem Nullpunkt, dann werden sie frei gelassen. Da sie beim ersten Schritt jeden Punkt zwischen −1 und 1 mit der gleichen Wahrscheinlichkeit erreichen können, breiten sie sich gleichmäßig in diesem Intervall aus. Es befinden sich daher gleich viele Statistiker am Nullpunkt wie am Rand des Bereichs bei plus oder minus eins – oder jedem Punkt dazwischen. Dabei muss man beachten, dass sich an jedem Punkt unendlich viele Statistiker befinden, der Wert im gleichverteilten Intervall entspricht daher dem größtmöglichen.
Im zweiten Schritt wandern sie gleichverteilt weiter, allerdings können sie sich dieses Mal nur um maximal ⅓ von ihrem aktuellen Standort entfernen. Dadurch verändert sich die Verteilung entlang des Zahlenstrahls. Diejenigen, die sich nach dem ersten Schritt am Rand der Verteilung befanden, also beispielsweise in der Nähe von 1, können diese Grenze nun überwinden. Da der Bereich der Zahlen, die größer sind als eins, zuvor noch leer war, findet eine gerichtete Fließbewegung statt: Einige der am Rand befindlichen Statistiker betreten nun den einst unbevölkerten Bereich. Andersherum kommen aus der leeren Zone aber keine Statistiker zurück (denn dort war ja niemand).
Dadurch verringert sich ihr Anteil in den Intervallen [2⁄3, 4⁄3] und [–4⁄3, –2⁄3], die Verteilung flacht an den Rändern also ab. Zwischen den Punkten –2⁄3 und 2⁄3 sind die Walker hingegen immer noch gleichverteilt, da genauso viele den Bereich verlassen wie neu betreten. Der Wert in dem Bereich entspricht also immer noch dem maximal erreichbaren. Weil das zweite Borwein-Integral nur vom Anteil der Statistiker abhängt, die sich am Nullpunkt befinden, bleibt das Ergebnis dadurch unverändert – auch wenn die Verteilung insgesamt eine andere Form annimmt.
Im dritten Schritt dürfen sich die Statistiker um maximal 1⁄5 nach rechts oder links weiterbewegen. Deshalb herrscht bloß noch zwischen den Punkten – (1 – 1⁄3 – 1⁄5) und 1 – 1⁄3 – 1⁄5 eine Gleichverteilung. Das heißt, die Verteilung der Statistiker auf dem Zahlenstrahl wird immer breiter. Nach jedem Schritt verkleinert sich der gleichverteilte Bereich, bis er irgendwann ganz verschwindet.
Das Wissen um eine begrenzte Welt verändert alles
Dieser Fall tritt nach dem siebten Schritt ein, da: 1 – 1⁄3 – 1⁄5 – 1⁄7 – 1⁄9 – 1⁄11 – 1⁄13 – 1⁄15 < 0. Ab diesem Zeitpunkt nimmt der Anteil der Statistiker, die sich am Nullpunkt befinden, folglich ab. Anfangs ist der Unterschied noch kaum merklich, aber je mehr Schritte man betrachtet, desto deutlicher weicht das Ergebnis der Integrale schließlich von π ab.
Majumdar und Trizac erklären in ihrer Arbeit, wie man sich den Umbruch intuitiv vorstellen kann: Wenn man unendlich viele Statistiker von –1 bis 1 verteilt, wissen die am Nullpunkt nichts von den Grenzen bei –1 und 1 – aus ihrer Sicht wirkt es, als seien alle Personen über den gesamten Zahlenstrahl verteilt. Erst wenn die verrückten Statistiker, die im ersten Schritt eine dieser Grenzen erreicht haben, wieder an den Nullpunkt zurückkehren, erfahren die stehen gebliebenen Personen davon. Das ist frühestens nach acht Schritten möglich. Demnach bricht das wiederkehrende Muster einer Integralfolge immer dann zusammen, wenn alle Statistiker erfahren haben, dass die für sie erreichbare Welt beschränkt ist.
Für uns sollte dieses Beispiel eine Lehre sein, nicht allzu viel auf wiederkehrende Muster zu geben. Nur weil ein bestimmtes Phänomen immer wieder auftritt, muss es nicht zwangsläufig weiter so kommen. Ich hoffe jedoch, zumindest meiner Serie auch weiterhin nachkommen zu können – und ihnen auch in den kommenden Wochen freitags erstaunliche Fakten aus der Mathematik zu präsentieren. Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!
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