Gain-of-function-Forschung: Gentechnische Experimente an Viren können Leben retten

Dieser Artikel wurde erstmals am 24.10.2025 veröffentlicht.
»Die Pandemie ist in einem chinesischen Labor entstanden, durch Gain-of-function-Forschung.« Das ist keineswegs eine wissenschaftlich fundierte Erkenntnis zum Ursprung von Covid-19, sondern eine Hypothese, die in den Vereinigten Staaten zur vermeintlich festen politischen Gewissheit geworden ist. So fest, dass sogar Erlasse des Präsidenten damit begründet werden. Es gibt bis heute aber keinen öffentlich einsehbaren, wissenschaftlich belastbaren Beleg dafür. Gleichwohl ist die Laborhypothese nicht auszuschließen, denn die technischen Möglichkeiten dafür bestehen. Solange wir keinen Beweis dafür haben, dass der Pandemie-Erreger aus Tieren stammt, wird die Debatte weitergehen. Allerdings ist das, was derzeit in der Laienpresse und in manchen populären Büchern über den Ursprung der Pandemie kursiert, zwar emotional aufwühlend, lässt aber schwerwiegende Logik- und Verständnisfehler erkennen. Oft stützt es sich auf nur behauptete Faktengrundlagen schleierhaften Ursprungs, die wissenschaftlich anerkannten Analysen nicht gleichwertig sind.
Dies ist auch der Tenor des Ende Juni veröffentlichten Abschlusspapiers der Scientific Advisory Group for the Origins of Novel Pathogens (SAGO). Dieses Expertengremium berät die Weltgesundheitsorganisation WHO in Fragen zu den Ursprüngen von Pandemien, einschließlich Covid-19. Wissenschaft ist eben das genaue Gegenteil von Geheimwissen. Öffentlich nachvollziehbare Daten weisen nach heutigem Stand übereinstimmend in Richtung eines natürlichen Ursprungs der Pandemie.
Aber als Wissenschaftler müssen wir selbstverständlich offenbleiben. Neue Erkenntnisse könnten den Sachstand infrage stellen, etwa wenn sich herausstellen sollte, dass der Covid-19-Erreger schon deutlich früher zirkulierte als bisher bekannt. Dann verlören einige der derzeit validesten Studien zum natürlichen Ursprung an Überzeugungskraft, denn sie gehen von der Grundlage aus, dass die ersten menschlichen Fälle nicht lange vor dem November 2019 auftraten. Hierauf basiert eines der wesentlichen Argumente für einen tierischen Ursprung des Erregers. Denn im Menschen gab es von Anfang an zwei unterschiedliche Viruslinien, die unabhängig voneinander auf menschliche Wirte übertragen worden sein müssen. Als Ursprung kommen nach normalem Ermessen nur Tiere in Frage, die das Virus damals in sich trugen.
Wissenschaft im Griff der politischen Agenda
Im postfaktischen Zeitalter kann es allerdings schnell vorkommen, dass Politik die Prinzipien der Wissenschaft aushebelt. Hier werden aus Vermutungen rasch handlungsleitende Gewissheiten, wenn sie in eine bestehende Agenda passen. Ein besonders schillerndes Beispiel sehen wir derzeit in den USA. Auf einer offiziellen Website präsentiert das Weiße Haus ein Ganzkörperbild des amerikanischen Präsidenten zwischen den Wörtern »Lab« und »Leak«. Ein klarer Verweis auf die »Lab Leak Theory«, die Hypothese, Sars-CoV-2 sei aus einem Labor entkommen. Wenn die Diskussion darauf kommt, geht es immer wieder um Gain-of-Function-Forschung. Damit ist die gentechnische Veränderung von Krankheitserregern gemeint, in der Annahme, dass der Erreger von Covid-19 auf diese Weise hergestellt worden sei. »Dangerous gain-of-function research«, eine schon dem Begriff nach gefährliche Forschung also, wird in dieser Debatte zum Leitmotiv einer neuen Wissenschaftsfeindlichkeit.
In den USA wurde »dangerous gain-of-function research« per Dekret gestoppt – umgesetzt wurde bereits ein Finanzierungsstopp solcher Arbeiten durch die National Institutes of Health. Die höchst unscharfen Definitionen, die in dem Zusammenhang aufgebracht werden, lassen sich allerdings auf jedwede Forschung an Krankheitserregern anwenden, je nach Auslegung bis hin zu Experimenten im Biologiekurs der gymnasialen Oberstufe. Wird also nun sämtliche Forschung an Krankheitserregern gestoppt? Oder lediglich das, was in der Virologie passiert? Einer Disziplin wohlgemerkt, der wir einige der größten medizinischen Erfolge verdanken: die Auslöschung der Pocken; die Beseitigung der Kinderlähmung; die Heilung von Hepatitis C; die dauerhafte Virus-Unterdrückung bei HIV-Infektion, sodass man damit weitgehend uneingeschränkt weiterleben kann; oder die Verkürzung der Covid-19-Pandemie mit schätzungsweise 20 Millionen geretteten Menschenleben durch die Corona-Impfung.
Beim Thema Gain-of-function-Forschung nutzt die politische Kommunikation begriffliche Unschärfen mit Absicht. Laien lesen den wörtlich so verwendeten Slogan »stop dangerous gain-of-function research« nicht etwa als »denjenigen Teil der Gentechnik stoppen, der gefährlich ist«, sondern als: »Die gefährliche Gentechnik muss gestoppt werden.«
Auch in den USA beabsichtigt man wohl nicht ernsthaft, eine lebenswissenschaftliche Elementartechnik zu beenden. Das Schüren einer Wissenschaftsfeindlichkeit, die zur politischen Agenda geworden ist, lässt sich aber klar erkennen. Längst sehen sich renommierte Wissenschaftler mit persönlichen Anschuldigungen konfrontiert und bekommen ihre Finanzierung entzogen, weil sie gentechnische Forschung betreiben. Wem nützt das?
Gentechnische Forschung nach strikten Regeln
Gain-of-function(GoF)-Forschung ist kein Skandal und kein Verbrechen, sondern ein handwerklicher Standard in der Biomedizin. Ohne diesen grundlegenden Ansatz der funktionellen Genetik wären die größten Durchbrüche der Pharma- und Immuntherapie unmöglich gewesen. Und jene GoF-Arbeiten, die tatsächlich mit Risiken einhergehen, etwa bei der Erforschung von Krankheitserregern, finden unter aufwändigen technischen und biologischen Sicherheitsmaßnahmen statt, damit es eben nicht gefährlich wird. Gerade in Deutschland ist gentechnische Forschung stark reguliert; unsere Gesetze und Richtlinien gelten als vorbildlich und andere Länder orientieren sich daran. Forschung an Krankheitserregern unterliegt einer strikten behördlichen Aufsicht auf mehreren Gebieten, die gesetzlich reglementiert sind: dem Arbeitsschutz, dem medizinischen Umgang mit Krankheitserregern sowie der Gentechniksicherheit. Seit etwa zehn Jahren kommt noch die ethische Bewertung entsprechender Arbeiten durch interdisziplinäre Fachkommissionen hinzu – das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. All dies wird in der derzeit aus den USA kommenden Debatte ignoriert. Höchste Zeit also, über das Thema zu sprechen, um die Hintergründe zu verstehen. Beginnen können wir dabei mit den Anfängen der Genetik.
Das Betrachten von Pflanzen, Tieren und auch der eigenen Verwandtschaft ließ schon unsere Vorfahren erahnen: Eigenschaften werden vererbt. Ein runzeliges Blatt, die Form einer Nase, die Farbe von Haut und Haaren, das Auftreten mancher Krankheiten – das sind keine Zufälle. Bestimmte Merkmale häufen sich in Familien, oder allgemeiner ausgedrückt, in Gruppen von Organismen, die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Spätestens seit Gregor Mendel wissen wir, dass dies nicht nur für Menschen gilt. Nicht »das Blut« der Vorfahren trägt die Erbinformation, wie viele früher glaubten, sondern ihre Gene tun es. Die Zusammensetzung der Erbanlagen, die »Buchstabenfolge« der DNA, bildet den sogenannten Genotyp eines Organismus. Dieser wiederum bestimmt die äußere Erscheinungsform des Organismus, den Phänotyp.
Nun ist der Zusammenhang nicht immer einfach.
Ob Nasenform, Musikalität oder mathematische Begabung – die meisten phänotypischen Merkmale sind komplex und werden von mehreren, vielleicht Hunderten Genen bestimmt. Die genotypische Abweichung eines einzelnen DNA-Bausteins reicht oft bei Weitem nicht aus, um phänotypische Unterschiede zu erklären.
Auf Fehlersuche im Erbgut
Zudem sind Genome von Tieren und Pflanzen enorm groß, was das Auffinden desjenigen Gens, das für ein bestimmtes Merkmal verantwortlich ist, extrem erschwert. Die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen ist hierfür nicht das richtige Bild. Besser passt die Fahndung nach einem Druckfehler in einem langen Satz, durch den er eine andere Bedeutung bekommen hat. Zudem verstehen wir die verwendete Sprache nicht. Alles, was wir haben, ist ein Wörterbuch – das Gesamtgenom des Organismus. Nur ist dieses Wörterbuch leider selbst voller kleiner Flüchtigkeitsfehler. Den Fehler in dem Satz erkennen wir daher erst dann sicher, wenn wir darüber hinaus noch mehrere andere Wörterbücher der fremden Sprache miteinander verglichen haben.
Die in Filmen und in der Laienpresse verbreitete Vorstellung, wir könnten bei einem Menschen oder einem Krankheitserreger den Phänotyp erklären, nachdem wir sein Genom sequenziert haben, ist grob vereinfachend
Die in Filmen und in der Laienpresse verbreitete Vorstellung, wir könnten bei einem Menschen oder einem Krankheitserreger den Phänotyp erklären, nachdem wir sein Genom sequenziert haben, ist daher grob vereinfachend. Die Funktion eines Gens aus der Abfolge seiner DNA-Bausteine zu erkennen – das ist, wie den Start einer Rakete auf das Drücken des Zündknopfs zurückzuführen. Ein Zusammenhang existiert, doch den Mechanismus dahinter verstehen wir nicht. Ein anderer Knopf könnte etwas anderes auslösen, was für uns ebenfalls erst einmal schwer zu durchschauen wäre.
In der Genetik führt der Weg zum Verständnis über die Statistik. Die Genome verschiedener Menschen unterscheiden sich an allen möglichen Stellen. Stimmen sie aber bei den Trägern einer Erbkrankheit an einer einzigen bestimmten Stelle überein, bei Gesunden hingegen nicht, dann haben wir dort das krankmachende Gen gefunden. So einfach stellt sich die Situation jedoch meist nicht dar. Die Gene unseres Erbguts sind nicht alle immer aktiv, und manche von ihnen funktionieren je nach Kontext unterschiedlich, obwohl ihre Nukleotidsequenz, die Reihenfolge ihrer DNA-Bausteine, gleich aussieht. Hinzu kommt: Die schiere Zahl an zusätzlich möglichen Veränderungen im Genom erzeugt ein derart starkes Hintergrundrauschen, dass wir das jeweils schuldige Gen oft nicht mit Sicherheit bestimmen können. Hier kommen wir zur Idee der direkten, funktionellen, nicht nur statistischen Untersuchung der Genfunktion.
Reverse Genetik liefert robuste Belege
Wenn man ein Gen aus dem Erbgut einer Zelle entfernt, kann man sehen, welche zelluläre Funktion dadurch ausfällt. Das ist, als würde man eine Sicherung herausnehmen, um zu beobachten, welche Lampen dann erlöschen – und somit zum selben Schaltkreis gehören. Tatsächlich tun Genetiker genau das. Der Ansatz wird reverse Genetik genannt. Er beruht nicht auf dem genetischen Vergleich ausgewählter Phänotypen, sondern auf dem Vergleich von Phänotypen nach gezielten Veränderungen des Genotyps. Wir können beispielsweise ein Gen in einer Zelle zerstören – oder umgekehrt in eine Zelle, der ein bestimmtes Gen fehlt, dieses einsetzen – und direkt beobachten, welche Funktion dadurch verloren geht beziehungsweise gewonnen wird. In beiden Fällen ist die Beweisführung robuster als ein rein statistischer Vergleich von Genomsequenzen.
Damit haben wir beschrieben, was GoF-Forschung wirklich ist: ein universell verwendeter genetischer Ansatz, um zu beweisen, welche Funktion ein Erbfaktor ausübt. Idealerweise zeigt man in seinen Experimenten, dass ein Funktionsgewinn (englisch: gain of function) oder ein Funktionsverlust (loss of function) resultiert, je nachdem, ob man ein Gen hinzufügt oder wegnimmt. Sehr viele Experimente in der funktionellen Genetik und Zellbiologie beruhen auf diesem Prinzip. Die Erfindung der »Genschere« CRISPR-Cas, die 2020 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, hat solche Eingriffe ins Erbgut erheblich vereinfacht.
GoF-Forschung lässt sich selbstverständlich auch an Krankheitserregern durchführen – seien es Viren, Bakterien, Pilze oder Parasiten. Hier helfen Gain- beziehungsweise Loss-of-function-Ansätze ebenfalls, zu verstehen, welche Funktionen die Erbanlagen innehaben, welche Veränderung eine Mutation in einem Virus bewirkt. Da diese Organismen jedoch übertragbar sind, gehen solche Arbeiten mit Risiken einher. Untersuchen wir beispielsweise, welche Gene einem krankmachenden Bakterium eine Antibiotikaresistenz verleihen, dann erzeugen wir im Labor unter Umständen resistente Bakterienstämme, die bei einer Infektion schlecht zu kontrollieren wären. Ein anderes Beispiel wäre ein Virus, das uns normalerweise nicht gefährlich wird, durch GoF-Veränderung aber die Fähigkeit erhält, den Menschen zu infizieren. Ein solches Szenario vermuten manche hinter dem Ursprung von Sars-CoV-2.
Zahlreiche Vorkehrungen gegen einen Laborunfall
Die Infektionsforschung kennt solche Gefahren seit Langem und unterwirft sich daher gesetzlich verankerten Sicherheitsmaßnahmen. Krankheitserreger werden anhand ihrer Gefährlichkeit in Risikogruppen unterteilt. Die besonders gefährlichen – sei es, weil sie leicht übertragbar oder potenziell tödlich sind – sortiert man in die Risikogruppen 3 oder 4, die weniger gefährlichen in 1 oder 2. Die Schutzstufen der Labore, in denen entsprechende Forschungsarbeiten stattfinden, sind genauso nummeriert: von 1 bis 4. Ab Schutzstufe 3 müssen Forscherinnen und Forscher ausnahmslos so arbeiten, dass Krankheitserreger, mit denen sie experimentieren, nicht in die Raumluft gelangen können. Hierfür arbeiten sie grundsätzlich mit verschlossenen Gefäßen und öffnen diese nur unter Luftstrom-Werkbänken, aus denen selbst bei ungeschickter Handhabung kein Material nach außen gelangen kann. Von jedem infizierten Patienten im Krankenhaus geht ein ungleich höheres Risiko aus.
Ab Schutzstufe 3 herrscht im gesamten Laborraum zudem ein Unterdruck gegenüber der Umgebung. Das verhindert das Entweichen von kontaminierter Luft; nur virusgefilterte Luft gelangt nach draußen. Für den unwahrscheinlichen Fall eines Laborunfalls trägt das Laborpersonal zusätzlich noch Schutzkleidung – in vielen (aber nicht allen) Laboren der Stufe 3 beispielsweise eine sogenannte Respiratorhaube, durch die filtrierte Atemluft strömt. In Laboren der Stufe 4 ist sogar ein Schutzanzug mit Atemluftzufuhr von außen vorgeschrieben.
Gentechnische Forschung an Krankheitserregern wird zudem nicht nur technisch kontrolliert, sondern oft noch zusätzlich mittels biologischer Sicherheitsmaßnahmen. So werden Erreger in vielen Fällen gezielt abgeschwächt, bevor man überhaupt Versuche an ihnen durchführt. Der Erkenntnisgewinn ist fast gleichwertig, die veränderten Krankheitskeime aber sind von vornherein wenig bis gar nicht übertragbar. Selbst für den äußerst seltenen Ausnahmefall, dass Experimentatoren die Übertragbarkeit oder Virulenz von Krankheitserregern im Labor erhöhen, gibt es Regularien. Dann erhöht sich die Sicherheitseinstufung der Arbeiten. Erreger der Risikogruppe 3 etwa werden dann in Laboren der gentechnischen Sicherheitsstufe 4 behandelt.
Über alle entsprechenden Vorschriften, Einstufungen und Prozeduren wachen die jeweils zuständigen Landesbehörden. Verstöße ziehen hohe Strafen und disziplinarische Konsequenzen nach sich. Mit der interdisziplinär besetzten, hochangesehenen Zentralen Kommission für Biologische Sicherheit (ZKBS) verfügen die Landesbehörden zudem über ein permanentes wissenschaftliches Beratungsgremium, das in vielen Jahren einen enormen Fundus an öffentlich nachvollziehbaren Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen erarbeitet hat. Ab der Sicherheitsstufe 3 müssen alle neu geplanten Arbeiten der ZKBS zur Beurteilung vorgelegt werden.
All das zeigt: Vieles in der derzeitigen aufgeregten Debatte beruht auf Ungenauigkeiten, und so manches öffentlich debattierte Thema wird ohne Sachkenntnis behandelt. Viele trauen sich aus Unkenntnis keine Äußerung zu, andere machen sich die Wissenslücken strategisch zunutze, um dort hinein ihre eigenen Argumente zu platzieren. Das sollten wir unbedingt verbessern.
Präzise Begriffe verhindern eine unscharfe Debatte
Beginnen wir damit, durch klare Sprache für gemeinsame Argumentationsgrundlagen zu sorgen. Nennen wir potenziell gefährliche GoF-Forschung doch so, wie wir es wirklich meinen: »gain of resistance« (GOR), »gain of transmissibility« (GOT) und »gain of virulence« (GOV) – also das Verleihen von erhöhter Resistenz, leichterer Übertragbarkeit und zusätzlicher Virulenz. Virulent und übertragbar sind nur Krankheitserreger. Damit machen wir schon einmal klar, dass wir hier nicht von der breiten biomedizinischen Forschung sprechen, sondern von Arbeiten an Erregern, die von vornherein in Sicherheitslaboren der Stufen 2, 3 oder 4 stattfinden. Auch stellen wir dadurch klar, dass die entsprechenden technischen Sicherheitsmaßnahmen und gesetzlichen Regelwerke hier in Gänze greifen. Nur auf dieser Grundlage können wir darüber sprechen, wo wir eine Grenze ziehen wollen zwischen dem, was zum Nutzen der Gesellschaft nötig ist, und dem, was man einschränken möchte. Egal, ob mit bestehenden oder zusätzlichen Regularien.
Die größten Entdeckungen in der Grundlagenforschung wären ohne Gentechnik an Krankheitserregern undenkbar gewesen
Die größten Entdeckungen in der Grundlagenforschung wären ohne Gentechnik an Krankheitserregern undenkbar gewesen. Das gilt für die »Genschere« CRISPR-Cas ebenso wie für Corona-Impfstoffe oder Hepatitis-C-Medikamente. Eine methodische Leittechnologie, die seit Jahrzehnten praktiziert und kontinuierlich fortentwickelt wurde, werden wir nicht aufgeben, bloß weil ein Stimmungsumschwung in den USA eine neue Wissenschaftsfeindlichkeit erzeugt. Unsachgemäße Debatten zum Thema schaden nicht nur der Forschung, sondern auch den Patienten, der Wirtschaft und letztendlich der ganzen Gesellschaft.
Wenn wir jetzt und künftig Lehren aus der Covid-19-Pandemie ziehen möchten, um die nächste besser zu bewältigen oder vielleicht sogar ganz zu verhindern, müssen wir alle Sichtweisen offen erörtern. Es gibt durchaus einiges zu diskutieren, denn kein System ist perfekt und auch Wissenschaftler sind nur Menschen. Wir müssen uns dabei aber an die Fakten halten und jene Personen respektieren, die sich nach jahrzehntelanger Ausbildung und Berufserfahrung besser auskennen als Laien. Ohne Respekt vor Fachexpertise führen wir eine reine Meinungsdiskussion, die die zerstörerischen Unschärfen im Denken und Sprechen nur vergrößert.
Bloße Vermutungen sind wenig vertrauenswürdig
Es scheint derzeit unklar, ob zum Ursprung der Pandemie noch weitere Daten vorgelegt werden. Jedwede Version ihres Ursprungs hätte keine Bedeutung dafür, wie die Pandemie anschließend ihren Lauf nahm und was unternommen wurde, um sie zu kontrollieren. Viren wie Sars-CoV-2 entstehen und zirkulieren in der Natur unablässig. Kein Impfstoff, kein Medikament, keine Kontrollstrategie wäre anders ausgefallen, wenn man damals ernst zu nehmende Hinweise gehabt hätte, dass das Virus aus einem Labor stammte.
Doch für Virologen wäre ein solcher Vorfall der größte anzunehmende Unfall – eine fast unvorstellbare Folge unserer Forschung. Schon deshalb sind alle Fachleute stark interessiert an neuen Informationen dazu. Aus gutem Grund gehen Infektionswissenschaftler von einem natürlichen Ursprung des Erregers aus und halten unbelegte Spekulationen über einen Ursprung aus dem Labor bisher für wenig überzeugend. Immerhin bietet die Natur eine reichhaltige Quelle von Krankheitserregern, aus der in der Vergangenheit immer wieder Epidemien und Pandemien hervorgegangen sind. Anderslautende Hinweise und insbesondere Daten zu einer möglichen Herkunft von Covid-19 aus dem Labor müssten der Wissenschaft – und damit der Öffentlichkeit – in überprüfbarer Form vorgelegt werden. Gruppen von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen würden dies dann nachvollziehen, um zu gemeinsamen Schlüssen zu kommen. Ihre Schlüsse und die zugrunde liegenden Analysen würden sie veröffentlichen. Die Grenzen der Analysen und Schlussfolgerungen würden in solchen Veröffentlichungen benannt, genau wie dies in den bereits vorliegenden Veröffentlichungen zum natürlichen Ursprung geschehen ist, deren Schlüsse ebenfalls noch nicht als perfekt gelten können.
Abgesehen von der Debatte um Covid-19 gibt es aber auch grundsätzlichen Gesprächs- und Verbesserungsbedarf. In letzter Zeit wird nämlich gentechnische Forschung an Krankheitserregern mit zunehmender Verbreitung durchgeführt. Ich selbst bin oft als Gutachter oder akademischer Redakteur für Wissenschaftsbeiträge zuständig. Hierbei und beim allgemeinen Studium der wissenschaftlichen Literatur fällt mir auf, dass Labortechniken, die noch vor zehn Jahren kaum zwei Dutzend der weltbesten Labore beherrschten, nun breiter zum Einsatz kommen. Auch in Ländern außerhalb der USA und Europas besitzen mehr und mehr Fachleute die Befähigung für entsprechende Arbeiten – bei teils unklarer regulativer Kontrolle.
Welchen Nutzen die Gain-of-function-Forschung hat
Brauchen wir solche Forschungsprojekte? Keine Frage: Wenn es darum geht, die Achillesferse eines Virus zu entdecken, einen molekularen Angriffspunkt, gegen den wir ein Medikament entwickeln können, dann überwiegt der Nutzen das Risiko. Ein Nutzen wohlgemerkt auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Kaum jemand möchte schließlich die Forschung, die Innovation und die daraus hervorgehende Wertschöpfung durch überbordende Regulation versperren.
Komplizierter wird es bei Laborarbeiten, die nicht direkt der Entwicklung von Medikamenten oder Impfstoffen dienen. Brauchen wir den reinen Erkenntnisgewinn über alle möglichen Viren, die in der Natur zwar vorkommen, aber den Menschen normalerweise nicht infizieren? Gain-of-transmissibility-Arbeiten an H5N1-Vogelgrippeviren vor mehr als zehn Jahren lösten eine heftige Diskussion innerhalb der Wissenschaft aus. Hier ging es darum, im Labor nachzubilden, welche Grippeviren in der Natur entstehen könnten. Potenziell gefährliche, in natürlichen Viren getrennt vorkommende Mutationen wurden in einem Virus kombiniert, um zu sehen, was die Natur noch in petto hat. Darf man so etwas durchführen und die Erkenntnisse daraus veröffentlichen?
Es ist verständlich, wenn Menschen außerhalb der Wissenschaft mit der komplizierten Risikobewertung ein Problem haben
Gerade in Deutschland ist die Diskussion darüber sehr offen geführt geworden. Leopoldina und DFG haben als Ergebnis eine Handlungsleitlinie zur ethischen Bewertung von Forschungsarbeiten verfasst – mit Blick auf Nutzen, Risiken, Absicherung und Alternativen. Heute begleiten interdisziplinäre Gremien gentechnische Forschungsarbeiten vor Ort und erörtern diese Aspekte. Das gilt aber nur für Deutschland. Und trotz der beschriebenen Vorkehrungen ist es verständlich, wenn Menschen außerhalb der Wissenschaft mit der komplizierten Risikobewertung ein Problem haben.
Was vor zehn Jahren kritisiert wurde, hilft heute zu verstehen
Was den Nutzen der damaligen Vogelgrippe-Experimente betrifft, haben wir jedenfalls mittlerweile einen Erkenntnisvorsprung. Wir müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute nicht mehr mit kritischem Unterton fragen: »Was wollen Sie damit in zehn Jahren erreicht haben?« Wir können einfach fragen, wo wir heute ohne das damals generierte Wissen stünden. Dabei stellen wir fest: Was vor zehn Jahren kritisiert wurde, hilft uns heute zu verstehen, wie die verbreiteten Ausbrüche von H5N1-Vogelgrippeviren bei Milchvieh in den Vereinigten Staaten zu bewerten sind.
Diese Ausbrüche sind eine besorgniserregende neue Entwicklung im Verhalten eines Virus, das zu den wichtigsten potenziellen Pandemie-Erregern überhaupt zählt. Denn bis vor zwei Jahren galten Rinder als irrelevant für die Entstehung von Influenza-Pandemien. Alle Lehrbücher verweisen darauf, dass das Schwein das Mischgefäß für neue Influenzaviren darstellt. In Schweinen können sich sowohl menschliche als auch aviäre (von Geflügel stammende) Viren vermehren und kreuzen. Doch nun ist plötzlich Milchvieh betroffen, und dort ein vollkommen neues Zielorgan: nicht die Atemwege, sondern das Euter. Ein verdächtiges Virus in einem verbreiteten Nutztier, das sich ausgerechnet dort vermehrt, wo eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel entsteht – das klingt riskant. Also: Was wissen wir dazu?
Weltweit stellt die Politik diese Frage ihren jeweiligen Experten und Gesundheitsbehörden. Daran hängen wichtige wirtschaftliche und regulative Entscheidungen. Wenn die Gefahr tatsächlich groß ist, muss man sofort etwas tun. Um das Risiko zu bewerten, schauen wir heute exakt in jene Publikationen zu den erwähnten Untersuchungen von vor zehn Jahren. Dort wurde experimentell charakterisiert, welche Mutationen ein H5N1-Virus dazu befähigen, über die Luft von Säugetier zu Säugetier übertragbar zu werden. Diese Mutationen sind bei der jetzt in den USA grassierenden Virusvariante im Großen und Ganzen noch nicht vorhanden. Die eher entwarnenden Stimmen der Fachleute, die über die vergangenen zwei Jahre hinweg trotz der alarmierenden Milchvieh-Infektionen zu hören waren, hatten ihre Informationen genau aus jenen kritisierten Vogelgrippe-Experimenten.
Wenn Viren sich kreuzen
Es gibt viele weitere Fragen, die derzeit unbeantwortet sind und sich mit Gain-of-transmissibility- oder Gain-of-virulence-Ansätzen klären ließen. Zum Beispiel haben sich Vogelgrippeviren, die in Kühen zirkulieren, bisher nicht mit menschlichen Grippeviren gekreuzt. So ein Ereignis steht oft am Anfang einer Pandemie. Kann das noch geschehen? Man hätte das mittels GoF-Forschung längst im Labor untersuchen können. Wohl vor allem aus politischen Gründen wurde es bislang nicht gemacht. Aber wollen wir wirklich nichts über die Kreuzungsfähigkeit des Virus wissen und die Bedrohung erst wahrnehmen, wenn sie in der Natur realisiert wurde? Möglicherweise ließe sich dank solcher Experimente auch Entwarnung geben, falls sich herausstellte, dass keine gefährliche Kreuzung von Virusvarianten droht. Doch derzeit lautet die Devise wohl eher: nichts wissen, nicht handeln.
Und auch bei anderen Viren ist noch vieles offen. Kann sich beispielsweise der MERS-Erreger weiter an den Menschen anpassen? Er gehört ebenfalls zu den Coronaviren und ist möglicherweise virulenter als der Erreger von Covid-19. Vor gut zehn Jahren kam es zu einem großen Ausbruch des MERS-Virus in der saudi-arabischen Stadt Dschidda, die rund vier Millionen Einwohner hat. Der Ausbruch betraf zahlreiche Krankenhäuser und dauerte länger als einen Monat an. Die Situation sah aus wie der Beginn einer Pandemie. Damals kam das Geschehen zum Stillstand, die Übertragbarkeit des Erregers war offenbar nicht groß genug. Aber wir wissen, dass sich das Virus seither verändert und seine Vermehrungsfähigkeit gesteigert hat. Übersehen wir vielleicht, dass ein abermaliger Ausbruch dieses Erregers in einer Großstadt direkt in eine neue Pandemie münden kann?
Falls ja, gäbe es eine belastbare Handlungsempfehlung, nämlich umfassendes Impfen von Kamelen in der kommerziellen Haltung. Von dort nämlich stammt das Virus, und dort – bei der Aufzucht, Haltung und Schlachtung – infizieren sich immer wieder Menschen. Wirksame Impfstoffkandidaten gibt es bereits. Müssen wir uns nicht darum kümmern, mit wissenschaftlicher Akribie eine stabile Entscheidungsgrundlage in dieser Frage zu schaffen? Das unterlassen zu haben, würden wir im Fall einer Pandemie wohl sehr bereuen.
Weitere Fragen bestehen. Wäre es möglich, dass ein so gefährliches Virus wie der Ebola-Erreger seine Übertragbarkeit steigert und damit letztlich weltweit verbreitungsfähig wird? Genetisch-statistische Analysen haben während der großen Ebola-Epidemie in Westafrika 2014 genau diesen Verdacht erweckt. Analysen der Mutationsgeschwindigkeit legten damals nahe, dass schon kurze Mensch-zu-Mensch-Übertragungsketten zur Folge haben könnten, dass sich das Virus an den Menschen anpasst. Sie wurden begründet angezweifelt, wie das eben in einer kritischen Wissenschaftsgemeinschaft geschieht. Eine experimentelle Bestätigung der statistischen Befunde lief an, wurde aber teils aus politisch-regulativen Gründen nicht zu Ende geführt. Wollen wir also lieber nicht wissen, ob eine solche Gefahr droht? Dann sollte man das so beschließen und festhalten – und entsprechende Experimente womöglich international ächten, denn sonst werden sie vielleicht irgendwann in einem Land durchgeführt, in dem die technisch-regulative Aufsicht zu wünschen übrig lässt.
Ich plädiere ausdrücklich nicht dafür, GoF-Experimente um jeden Preis durchzuführen. Ich möchte nur beispielhaft klarmachen, um welche Fragen es überhaupt geht. Zur Diskussion steht, ob der Nutzen oder die Gefahren solcher Arbeiten überwiegen. Letztere lassen sich kontrollieren – aber als Virologen könnten wir auch Argumente übersehen, deshalb brauchen wir einen Diskurs mit Konsequenzen.
Was ist Erkenntnis wert? Wo wollen wir die Grenzen des Wissens ziehen? Gibt es Dinge, die wir nicht wissen müssen oder wollen? Wie stehen sich Erkenntnisfortschritt und Risiko gegenüber? Diesen zutiefst ethischen Fragen müssen wir uns als Gesellschaft stellen, nicht nur als Wissenschaftsgemeinschaft. Um hier in eine offene und faktenbasierte Diskussion überhaupt eintreten zu können, brauchen wir korrekte Begriffe, Aufmerksamkeit für wissenschaftliche Komplexität und einen unvoreingenommenen Blick auf die Gefahren, Nutzen und Chancen.
Und dann vielleicht auch noch etwas Politik.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.