Lab-Leak-These: Die ewige Suche nach Schuldigen

Mehr als fünf Jahre nach Beginn des Covid-19-Ausbruchs erhitzt eine These weiterhin die Gemüter: Dass ein Laborunfall, bei dem Sars-CoV-2 aus einem Forschungsinstitut entwich, den Anstoß für die Pandemie gab – und dass die chinesische Regierung dies in der Folge vertuscht hätte. Aktuell befeuern Nachrichten von »streng geheimen« BND-Dokumenten, die eine gemeinsame Investigativrecherche der »Süddeutschen Zeitung« und der »Zeit« aufdeckte, wieder einmal die so genannte Lab-Leak-These, die anscheinend nicht totzukriegen ist. Bereits 2020 habe der BND demnach festgestellt, dass ein Ursprung der Krankheit im Labor wahrscheinlich sei. Auf welche Daten sich diese Einschätzung des BND bezieht, die sich gegen die vorherrschende Ansicht der meisten Fachleute stellt, ist nicht bekannt. Denn die Dokumente sind weiterhin unter Verschluss. Das macht eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Vorwürfen unmöglich, wie auch der Covid-Experte Christian Drosten im »Spiegel« betont.
Wenn man einen Blick auf die Studien der vergangenen Jahre wirft, zeigt sich aber ein klarer Trend. Wieder und wieder kamen Teams aus Fachleuten zu dem Schluss, dass der Ursprung von Sars-CoV-2 wohl in Wildtieren liegt. Genetische Untersuchungen früher Fälle lenkten den Fokus auf einen Markt in der chinesischen Stadt Wuhan, auf dem unter anderem lebende Tiere verkauft wurden. In Abstrichen dort fand man Erbgut des Virus an den Stellen, an denen auch DNA-Spuren von Marderhunden nachwiesen wurden. Versuche zeigten, dass diese sich mit Sars-CoV-2 anstecken und den Erreger übertragen konnten. Der tierische »Patient 0« wurde zwar nie gefunden. Doch vieles deutet auf einen folgenschweren Kontakt zwischen Mensch und Wildtier als wahrscheinlicher Beginn der Pandemie hin. Das heißt nicht, dass ein Laborursprung aktuell gänzlich ausgeschlossen werden kann. Es könnte vielmehr noch länger dauern, bis der genaue Hergang abschließend geklärt ist. Auch nach dem ersten Sars-Ausbruch 2002 vergingen 15 Jahre, bis die Herkunft des Virus nachgewiesen war. Doch es gibt weiterhin kaum wissenschaftliche Belege, die klar für die Lab-Leak-These sprechen.
Dass wir dennoch regelmäßig zu ihr zurückkehren, ist bezeichnend. Denn sonst ist es um das Thema Covid ausgesprochen ruhig geworden. Dabei gäbe es durchaus Aspekte, die weiterhin einer kritischen Auseinandersetzung bedürfen. »Mit der Krankheit leben« bedeutet mittlerweile vor allem »ignorieren, dass es Covid gibt«. Hart erlernte Gewohnheiten wie Abstand zu halten, Mund-Nasen-Schutz zu tragen und Infektions-Hot-Spots zu meiden sind aus dem kollektiven Gedächtnis wie weggeblasen. Wer heute noch eine FFP2-Maske trägt, wird meist schief angeschaut und manchmal sogar belehrt, dass die Pandemie ja vorbei sei und man sich nicht mehr fürchten müsse. Millionen Patienten starben an (oder »mit« – ein weiteres, für manche heikles Thema) Covid, und noch mehr leiden bis heute an Long Covid und den damit verbundenen Langzeitfolgen ihrer Infektion. Sie alle werden genauso ausgeblendet wie die Tatsache, dass das Vordringen von Menschen in immer mehr tierische Rückzugsgebiete die Chancen erhöht, dass sich Ähnliches bald wieder ereignet. Oder dass die aktuell besonders in US-amerikanischen Milchkuhbetrieben grassierende Vogelgrippe ebenfalls jederzeit auf uns überspringen und eine weitere Pandemie auslösen könnte.
Was macht also den Fokus auf eine geheime Verschwörung so reizvoll? Er ist vor allem bequem. Denn es tut gut, das aufgestaute Leid aus der Pandemiezeit auf einen vermeintlich Schuldigen zu schieben – sei es in Form eines geheimniskrämerischen Staats, eines dubiosen Labors oder seinen Mitarbeitenden, die angeblich gefährliche Experimente durchführten und wilden Coronaviren so neue Fähigkeiten verpassten. Die wahrscheinlichere Variante, dass ein natürlicher Prozess den Anstoß zur Pandemie gab, ist offenbar für viele schwer zu akzeptieren. Denn dann müssten sie sich ja vielleicht mit anderen Problemen befassen, die nicht so leicht wegzuschieben sind.
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