Vorsicht, Denkfalle!: Richtig wichtig nichtig

Heute möchte ich Sie näher mit einem Phänomen bekannt machen, das mit der in meiner letzten Kolumne besprochenen Verlustaversion verwandt ist. Wir müssen hierfür nur »Besitz« durch »Information« ersetzen – sprich: Es geht darum, einmal erworbenes Wissen wieder aufzugeben.
Wozu sollte das gut sein? Nun, vielleicht kennen Sie den Spruch »Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann«. Dahinter verbirgt sich eine sehr ernste Wahrheit: Wir müssen einmal gewonnene Einsichten, ob flüchtig aufgeschnappte Daten oder bereits fest sedimentierte Gewissheiten, oft im Nachhinein relativeren, revidieren, ja sogar ganz aufgeben. Besser gesagt, wir müssten – denn dass wir es häufig nicht tun, zählt zu den Schwachstellen unserer kognitiven Grundausstattung.
In der Psychologie hat sich dafür der Begriff »cumulative redundancy bias« eingebürgert. Was man auf Deutsch etwa so poetisieren kann: Verzerrung der gesammelten Nichtigkeiten.
Diese können sich auf Persönliches beziehen – man steckt, oh Schreck, doch nicht mehr im selben Körper wie mit 17, und das Arbeiterviertel, in dem man einst wohnte, hat sich in ein Hipster-Quartier verwandelt. Im modernen Medienzeitalter ist Umdenken aber auch politisch höchst bedeutsam: Gestern glaubten wir noch, Waffen erhöhten die Kriegsgefahr, heute helfen sie, den Frieden zu sichern. Gestern noch war Amerika unser lieber Freund, heute ist es ein unberechenbarer Konkurrent. Gestern war das Wetter bloß das Wetter, heute ist es ein Vorbote kommender Katastrophen.
Alte, mitunter auch liebgewonnene Ansichten abzulegen, ist ebenso schwierig wie notwendig. Wissenschaft tut genau genommen nichts anderes. Denn hier geht es nicht darum, großartige Welterklärungen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, sondern vormals plausible Hypothesen weiterzuentwickeln, die inzwischen als mangelhaft erkannt wurden. Wissenschaft hangelt sich von Irrtum zu Irrtum höher hinauf, und daran sollten wir uns im eigenen Alltag ein Beispiel nehmen.
Wie viel Irrtum steckt in unseren Köpfen?
Ein Forscherteam um den Psychologen André Vaz hat dazu eine Studie vorgelegt. Demnach lässt unsere Neigung zur informativen Borniertheit viele Menschen eine Verschwörung wittern, wenn erste Wahlprognosen auf den Sieg eines bestimmten Kandidaten hindeuten, am Ende jedoch ein anderer die Nase vorn hat. So geschehen bei der US-Wahl 2020, an die sich jene »Stop the steal«-Kampagne anschloss, die mehrere Menschen das Leben kostete. Und dann war Joe Biden doch der rechtmäßige Präsident.
- Der fundamentale Attributionsfehler
- Die Normalitätsverzerrung
- Der Rückschaufehler
- Der Halo-Effekt
- Das Gesetz der kleinen Zahl
- Die Wissensillusion
- Die Verlustaversion
Die Empfehlungen der Forscher klingen allerdings etwas wohlfeil: Prognosen sollten entweder besser, vulgo: richtig sein oder gar nicht. Ob das Zurückhalten von ersten, unvollständigen Informationen die Lösung ist, mag man jedoch bezweifeln. Womöglich heizt eine solche Zensur das Verschwörungsdenken nur noch mehr an, schließlich muss ja irgendwer »dahinterstecken«. Und klar, korrekte Vorhersagen sind schöner als falsche, nur wissen wir alle: Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.
Insofern möchte ich an dieser Stelle auch keine Prognose über den in der nächsten Kolumne folgenden Effekt der Psychologie abgeben. Ich mag es nämlich gar nicht, wenn ich mich selbst revidieren muss!
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