Krebs verstehen: Der rätselhafte Darmkrebsanstieg und das Mikrobiom

Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Wenn ich durch meinen Social-Media-Feed scrolle, springen mir ständig Beiträge zur Darmgesundheit ins Auge: Influencer filmen sich dabei, wie sie im Supermarktregal zu Sauerkraut, Kimchi oder Kombucha greifen. Die fermentierten Lebensmittel sollen mit ihren Bakterien die Darmflora stärken. Wenn es nach den Influencern geht, steckt hinter fast jedem Gesundheitsproblem – ob unreine Haut oder Verdauungsbeschwerden – eine Fehlbesiedelung des Darms. Könnte das auch für Darmkrebs gelten?
In unserem Darm leben 20 bis 100 Billionen Mikroorganismen. Neben Pilzen und Viren sind es vor allem Bakterien wie etwa Firmicutes und Bacteroidetes. Ihr Erbgut umfasst zusammen genommen mehr als drei Millionen Gene, während unser eigenes nur rund 20 000 Gene zählt. Wir tragen also deutlich mehr fremde als eigene Gene in uns! Schon kurz nach der Geburt beginnt die Darmbesiedelung. Babys nehmen Bakterien bei der vaginalen Geburt oder über die Muttermilch auf. Im Lauf des Lebens prägen Ernährung, Umwelt, Medikamente und Infektionen unser individuelles Mikrobiom.
Die Mikrobengemeinschaft übernimmt wichtige Aufgaben: Sie beeinflusst unter anderem die Durchlässigkeit der Darmschleimhaut und steuert, wie der Körper Nährstoffe aufnimmt. Da im Darm viele Immunzellen vorkommen, wirken sich die Mikroorganismen auch auf das Immunsystem aus. Ein verändertes Mikrobiom wird mit verschieden Krankheiten in Zusammenhang gebracht, etwa mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, Adipositas oder Diabetes. Oft ist aber unklar, was dabei Ursache und was Folge ist. Viele Fragen sind noch offen.
Sollte sich dieser Trend fortsetzen könnte Darmkrebs bei jungen Erwachsenen 2030 die häufigste Krebsart sein.
Mehr Darmkrebs bei Jüngeren
Darmkrebs ist derzeit die dritthäufigste Krebserkrankung weltweit. In einigen Ländern steigt die Zahl der Darmkrebsfälle bei Erwachsenen unter 50 Jahren. In Deutschland nehmen die Darmkrebserkrankungen in dieser Altersgruppe jährlich um etwa zwei Prozent zu. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnte Darmkrebs bei jungen Erwachsenen 2030 die häufigste Krebsart sein. Fachleute vermuten, dass die Ursache in einem veränderten Lebensstil liegt, der etwa mit ballaststoffarmer, fettreicher Ernährung, Bewegungsmangel und Übergewicht einhergeht. Auch das Darmmikrobiom könnte dabei eine Rolle spielen. Zell- und Tierversuche zeigen: Ein Ungleichgewicht der Mikrobengemeinschaft kann tatsächlich die Entstehung von Darmkrebs begünstigen. Bestimmte Bakterien können chronische Entzündungen im Darm auslösen, die das Krebsrisiko erhöhen. Andere produzieren Stoffwechselprodukte wie sekundäre Gallensäuren, die das Erbgut in Darmzellen schädigen können.
Mikroorganismen bilden den Giftstoff Colibactin
In einer Studie haben Forscherinnen und Forscher knapp 1000 Darmkrebsproben von Personen aus elf Ländern untersucht. Interessanterweise fanden sie in den Tumoren jüngerer Patienten häufiger Erbgutveränderungen, die typischerweise auf so genannte Polyketidsynthase-tragende (pks+) Bakterien zurückzuführen sind. Sie produzieren den Giftstoff Colibactin. Er kann nicht nur das Erbgut von Darmzellen schädigen, sondern auch schlafende virale Gene im menschlichen Genom aktivieren und so Mutationen fördern, die zu Krebs führen. Diese Mutationen traten vermehrt in Tumorproben aus jenen Ländern auf, in denen Darmkrebs häufig ist.
Auffällig war jedoch, dass die verantwortlichen Bakterien in den Proben fehlten – ein Befund, den auch schon frühere Studien zeigten. Den Forschern zufolge könnten die Bakterien den Darm zu einem früheren Zeitpunkt besiedelten haben, und bereits da schon die Schäden verursacht haben, bevor sich das Mikrobiom wieder änderte. Sie halten es für plausibel, dass der Kontakt mit Bakterien, die Colibactin produzieren, in jungen Jahren eine der Ursachen für die steigende Zahl von Darmkrebs bei Jüngeren ist.
Ob das Bakterium tatsächlich das Darmkrebsrisiko erhöht, lässt sich mit so einer Studie allerdings nicht ursächlich beweisen. Sie zeigt nur eine Korrelation. Auch weitere Risikofaktoren wie etwa Bewegungsmangel und Übergewicht spielen eine wichtige Rolle bei der Krebsentstehung. Wie stark die Krebs erregende Wirkung von pks+-Bakterien ist und ob man sie beeinflussen kann, bleibt unklar. Die Bakterien sind weit verbreitet, in manchen Ländern werden sie sogar als Probiotika eingesetzt. Viele gesunde Menschen tragen sie in sich, ohne je krank zu werden.
Auch andere Studien zeigen eine Verbindung zwischen einem veränderten Mikrobiom und Darmkrebs. So unterscheidet sich allgemein die Bakteriengemeinschaft im Stuhl von Erkrankten von jener im Stuhl von Gesunden. Aber auch zwischen den Erkrankten gibt es Unterschiede: Sitzt der Tumor auf der rechten Seite des Dickdarms, finden sich andere Bakterien, als wenn er auf der linken Seite und im Enddarm sitzt. Forscher konnten zeigen, dass bei Darmkrebspatienten die Zahl von Firmicutes-Bakterien zum Ende des Darms hin zunehmen, während Bacteroidetes-Bakterien dort immer spärlicher auftauchen. Ob diese Beobachtung klinisch relevant ist, ist noch unklar. Interessant finde ich sie dennoch, denn links- und rechtsseitiger Darmkrebs besitzt biologisch verschiedene Eigenschaften und wird teils unterschiedlich behandelt.
Einfluss von Ernährung und Probiotika
Die Ernährung hat einen sehr großen Einfluss darauf, wie sich unser Mikrobiom zusammensetzt und wie es arbeitet. Die so genannte »Western Diet« – also viel verarbeitetes Fleisch, Fett und Zucker, wenig Obst, Gemüse und Ballaststoffe – führt dazu, dass die Diversität der Mikroorganismen abnimmt. Die Ernährungsweise ist auch mit einem höheren Darmkrebsrisiko assoziiert. Gleichzeitig zeigen Beobachtungsstudien: Menschen, die mindestens zweimal pro Woche Joghurt essen, erkranken seltener an Darmkrebs. Doch auch diese Studie belegt nur einen statistischen Zusammenhang, keine Kausalität. Es könnte genauso gut sein, dass gesundheitsbewusstere Menschen häufiger Joghurt essen und insgesamt gesünder leben.
Wie nützlich sind Probiotika?
Dass es einen Zusammenhang zwischen dem Darmmikrobiom und Darmkrebs gibt, ist unbestritten. Um konkrete Handlungsempfehlungen daraus ableiten zu können, ist aber noch mehr Forschung notwendig. Bislang wissen wir zu wenig darüber, welche Bakterien für den Darm förderlich sind und wie man sie gezielt stärken kann. Deshalb rate ich zur Vorsicht bei Probiotikapräparaten mit hochdosierten Bakterienstämmen oder Pilzen. Für immungeschwächte Patienten, etwa unter einer Krebstherapie, oder jene mit venösem Zugang können selbst vermeintlich gute Mikroorganismen gefährlich werden. Sie können im Körper die Oberhand gewinnen und schwere Infektionen auslösen. Bislang ist nicht belegt, dass sich die Einnahme von Probiotika positiv auf eine Krebserkrankung auswirkt.
Ich empfehle eine ausgewogene Ernährung, die auch Joghurt, Kimchi oder Sauerkraut enthalten darf – aber bitte nur, wenn diese Lebensmittel auch vertragen werden. Viele meiner Patienten leiden an Appetitlosigkeit und Verdauungsbeschwerden. Bitte zwingen Sie sich nicht, Sauerkrautsaft zu trinken, wenn er Ihnen nicht guttut. Ein einfacher, gut verträglicher Tipp, den ich oft gebe: Flohsamenschalen. Die löslichen Ballaststoffe helfen gegen Verstopfung und Durchfall und dienen als Nahrung für nützliche Darmbakterien.
Die Forschung zur Rolle von Darmbakterien bei der Krebsentstehung fasziniert mich, doch vieles ist leider noch nicht gut genug verstanden. Hoffentlich erlebe ich es in meiner Laufbahn noch, dass wir das Mikrobiom gezielt therapeutisch beeinflussen, etwa um die Wirkung von Krebs-Immuntherapien zu verbessern. Vielleicht hilft die Darmflora sogar eines Tages dabei, Darmkrebs zu diagnostizieren. Und ich wünsche mir sehr, dass wir Ärztinnen und Ärzte in Zukunft spezielle Lebensmittel empfehlen können, die das Darmmikrobiom positiv beeinflussen und das Risiko für Darmkrebs senken.
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