Krebs verstehen: Wie stark Sport die Überlebensrate bei Krebs steigert

Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Vor wenigen Tagen habe ich etwas gelesen, was meine Arbeit als Ärztin an einem großen Darmkrebszentrum verändern wird. Es war eine Studie aus einer der bedeutendsten medizinischen Fachzeitschriften. Sie stellte nicht etwa ein neues Medikament oder Therapieform vor. Nein, sie zeigte, dass ein unterschätzter Faktor die Überlebenschancen von Darmkrebspatienten nach einer OP und Chemotherapie deutlich verbessert: Sport. Das ist aus mehreren Gründen ein medizinischer Meilenstein. Aber der Reihe nach.
Darmkrebs ist weltweit die dritthäufigste Krebserkrankung und fordert nach Lungenkrebs die meisten Todesopfer. Bei Dickdarmkrebs entfernen Ärzte in der Regel das Tumorgewebe und die umgebenden Lymphknoten in einer OP, sofern sich keine Metastasen in anderen Organen gebildet haben. Im Stadium III, wenn die Lymphknoten befallen sind, oder etwa bei sehr großen Tumoren in Stadium II folgt anschließend eine Chemotherapie. Sie senkt das Risiko, dass der Krebs zurückkehrt oder tödlich verläuft. Das passiert leider dennoch je nach Stadium in etwa 25 Prozent der Fälle. Deshalb suchen wir Ärzte nach neuen Ansätzen, die Nachsorge von Darmkrebserkrankten zu verbessern.
Sport senkt Sterberisiko um fast 40 Prozent
An der kürzlich erschienenen Studie haben knapp 900 Patientinnen und Patienten teilgenommen. Die Hälfte absolvierte nach der Darmkrebstherapie drei Jahre lang ein strukturiertes Sportprogramm und erhielt zusätzlich Tipps zu Bewegung und Ernährung. Die Kontrollgruppe bekam nur die Informationen, jedoch kein Sportprogramm. Nach acht Jahren lebten in der Sportgruppe noch 90 Prozent der Probanden, in der anderen Gruppe nur 83 Prozent. Die regelmäßige Bewegung senkte das relative Sterberisiko um fast 40 Prozent. Für mich eine medizinische Sensation.
Die Probanden sollten mindestens 2,5 Stunden pro Woche mit mittlerer Intensität körperlich aktiv sein, etwa fünfmal wöchentlich 30 Minuten zügig gehen. Alternativ konnten sie eine Stunde pro Woche mit hoher Intensität trainieren, beispielsweise dreimal die Woche 20 Minuten joggen. Wer dieses Pensum bereits vor Studienbeginn erfüllte, sollte seine Aktivität verdoppeln. Die Wahl der Sportart blieb den Teilnehmern überlassen. Alltägliche Bewegung bei der Arbeit oder im Haushalt wurde nicht einberechnet, jedoch wurden die Probanden ermutigt, jede Gelegenheit zur Bewegung zu nutzen.
Gesundheitscoaches unterstützten die Teilnehmer, damit sie ihre Ziele nicht aus den Augen verloren. In den ersten sechs Monaten fanden alle zwei Wochen verpflichtende individuelle Beratungen statt: Welche Sportarten passen am besten in den Alltag? Wie lassen sich Gesundheitsziele realistisch erreichen? Zusätzlich nahmen sie an zwölf verpflichtenden Trainingseinheiten teil, weitere zwölf waren freiwillig.
In den folgenden sechs Monaten gab es weiterhin alle zwei Wochen Coachings, entweder persönlich, per Telefon oder Computer. Wer persönlich erschien, konnte direkt trainieren. In den letzten zwei Jahren fanden monatliche Sitzungen statt. Ziel war es, die körperliche Aktivität über den gesamten Studienzeitraum beizubehalten.
Warum Studien zu Sport und Krebs schwer durchzuführen sind
Der Zusammenhang zwischen Übergewicht, körperlicher Inaktivität und Krebs ist schon länger bekannt. Doch den Einfluss von Sport (oder Ernährung) auf Krebs wissenschaftlich zu belegen, ist alles andere als einfach: Wie stellt man sicher, dass die Probanden über einen langen Zeitraum ein Sport- oder Diätprogramm konsequent durchziehen? Soll man sie regelmäßig zu Sportkursen einladen und zur Teilnahme verpflichten? Wie setzt man das durch? Und wer soll diese Sportkurse durchführen und bezahlen?
»Die regelmäßige Bewegung senkte das Sterberisiko um fast 40 Prozent«
Medikamentenstudien sind zwar wahnsinnig teuer und aufwändig, dahinter stehen jedoch große Pharmakonzerne mit entsprechender finanzieller, personeller und technischer Ausstattung. Gibt man einer Versuchsgruppe ein Medikament und einer anderen nicht, lassen sich die Ergebnisse vergleichsweise leicht auswerten. Bei Sportstudien ist das anders: Die Probanden bewegen sich unterschiedlich viel und betreiben verschiedene Sportarten. Zudem gibt es kein Unternehmen, das »Sport« verkauft. Forschungsgelder müssen daher aus öffentlicher Hand oder von privaten Stiftungen stammen.
Die meisten Studien zum Thema Sport und Krebs beruhen auf Selbstauskünften der Probanden. Sie füllen dafür Fragebögen aus: Wie oft bewegen sie sich? Wie intensiv? Anschließend analysieren Forscher die statistischen Zusammenhänge. Solche Studien zeigen: Patienten mit Brust-, Lungen-, Prostata- und Hautkrebs können von Sport profitieren und dadurch ihre Überlebenschancen verbessern. Vermutlich wirkt sich Sport positiv auf das Immunsystem sowie Stoffwechsel- und Entzündungsprozesse im Körper aus. Der Goldstandard in der Medizin sind jedoch kontrollierte Studien, bei denen eine Intervention direkt mit einer anderen oder einem Placebo verglichen wird.
Dass nun eine kontrollierte Studie mit so vielen Probanden über einen langen Beobachtungszeitraum vorliegt, ist ein Meilenstein. Bemerkenswert ist zudem: In der Sportgruppe starben nicht nur weniger Menschen an einem Rückfall ihrer Darmkrebserkrankung, auch andere Krebsarten traten hier seltener auf.
Trotzdem hat die Studien Schwächen: So nahmen etwa nur körperlich fitte Patientinnen und Patienten teil, deren Therapie schon zwei bis sechs Monate zurücklag. Gebrechliche Personen oder solche, bei denen schon kurz nach der Therapie der Krebs zurückkehrte, blieben außen vor. Das erklärt die hohen Überlebensraten in beiden Gruppen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass in der Sportgruppe mehr Probanden vorzeitig abbrachen als in der Kontrollgruppe. Vielleicht fühlten sich einige von ihnen so gut, dass sie den Sport nicht mehr für nötig hielten. Vielleicht aber ging es ihnen auch so schlecht, dass sie nicht mehr trainieren konnten. Das lässt sich nicht herausfinden. Die Daten könnten deshalb theoretisch verzerrt sein und die Ergebnisse in der Interventionsgruppe günstiger oder schlechter aussehen lassen als sie tatsächlich sind. Dass Menschen aus einer Studie ausscheiden, in der sie freiwillig Sport treiben müssen, ist jedoch nicht verwunderlich und schwer vermeidbar.
Was ich Patienten ab jetzt empfehlen werde
Ich begleite viele Patienten nach einer Darmkrebsbehandlung. Bisher habe ich ihnen zwar stets zu einem gesunden Lebensstil geraten – also nicht zu rauchen, sich ausgewogen zu ernähren, aktiv zu sein. Jetzt werde ich es mit noch mehr Nachdruck tun. Denn ich kann ihnen sagen: Wer regelmäßig Sport treibt, erhöht erheblich seine Überlebenschancen! Wäre das Sportprogramm in der oben beschriebenen Studie ein Medikament, würde es vermutlich zur neuen Standardtherapie bei Darmkrebs werden. Doch es ist kein Medikament. Und genau das ist das Schöne daran: Bewegung ist für jeden frei zugänglich, kostenlos und hat keine Nebenwirkungen (abgesehen von möglichen Sportverletzungen). Es hat dafür viele positive Effekte, etwa auf die Psyche, und es mindert das Risiko für andere Erkrankungen.
Die Studie zeigt aber auch: Wissen allein reicht nicht. Sport muss gemacht werden – und dabei halfen strukturierte Bewegungsangebote. Ich wünsche mir deshalb mehr solcher Programme für Krebspatienten. Viele Kliniken, Selbsthilfegruppen oder Sportverbände bieten bereits Sportkurse für Krebspatienten an. Ärzte können zudem Bewegung als Rehabilitationsmaßnahme verordnen.
Mir ist wichtig zu betonen, dass man aus der Studie nicht ableitet, dass Sport eine Chemotherapie ersetzen kann. Alle Probanden haben eine Chemotherapie erhalten. Gerade bei Hochrisikopatienten ist sie nach einer Darmkrebs-OP unverzichtbar. Eine Chemotherapie senkt nachweislich das Risiko eines Rezidivs und erhöht die Überlebensrate.
Dass Bewegung die Überlebenschancen zusätzlich steigert und wir endlich eine kontrollierte Studie dazu haben, ist für mich eine der schönsten Nachrichten in der Krebsmedizin – und zwar aller Zeiten.
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