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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die Erfindung der Nachkommastellen ist 150 Jahre älter als gedacht

Auch wenn es unspektakulär klingt: Die Dezimalschreibweise erleichtert unser Leben ungemein. Im Mittelalter musste man noch auf komplizierte Tricks zurückgreifen.
Eine Tabelle mit Dezimalzahlen
Heute erscheint uns diese Dezimalschreibweise als die natürlichste der Welt. Doch tatsächlich rechnete die Menschheit sehr lange mit anderen Zahlensystemen und Schreibweisen.

»Ich weiß noch, wie ich mit meinem Laptop aufgeregt durch die Gänge des Wohnheims rannte und versuchte, jemanden zu finden, der noch wach war«, erzählte der Mathematikhistoriker Glen van Brummelen kürzlich dem Wissenschaftsmagazin »Nature«. »Ich rief: ›Seht euch das an, der Typ rechnet in den 1440ern mit Dezimaltrennzeichen!‹« Mit dieser Entdeckung, die er im Februar 2024 im Fachjournal »Historia Mathematica« veröffentlicht hat, schrieb van Brummelen die Geschichte der Mathematik neu. Denn er konnte zudem eine Frage beantworten, die seine Kolleginnen und Kollegen seit Jahrhunderten beschäftigt.

Die Erfindung des Dezimaltrennzeichens klingt zunächst nicht allzu spannend: Dabei handelt es sich um ein Komma (im deutschsprachigen Raum) oder einen Punkt (im englischsprachigen Raum), der den ganzzahligen Anteil eines Werts von den gebrochenen Teilen trennt. Aber man muss sich nur einmal vorstellen, wie die Menschen vor Einführung dieser Schreibweise rechneten. Im Mittelalter half man sich unter anderem damit, dass man einen gebrochenzahligen Wert in Untereinheiten unterteilte. Allerdings gab es damals viele verschiedene Einheiten- und Zahlensysteme, die sich je nach Situation, Branche oder Region unterschieden. In der Astronomie griff man beispielsweise auf das Sexagesimalsystem zurück, das alle Einheiten in 60er-Päckchen unterteilt. Händler nutzten hingegen Einheiten wie Fuß, der aus zwölf Zoll besteht, oder Elle, die zwei Fuß umfasst.

Nun stellen Sie sich vor, Sie müssten mit solchen Einheiten rechnen. Und schlimmer noch: Sie kämen nicht nur mit einem einzigen Einheitensystem in Berührung, sondern gleich mit mehreren, weil Sie sowohl mit Händlern als auch mit Astronomen in Kontakt stehen. Noch in der heutigen Zeit kommt es zu Verwechslungen und Fehlern, wenn Personen aus Staaten mit unterschiedlichen Einheitensystemen zusammenarbeiten, wie ich in einer anderen Kolumne bereits erklärt habe.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Auch den italienischen Astronomen und Händler Giovanni Bianchini (1410–1469) schien das Hin und Her zwischen den verschiedenen Einheitensystemen zu nerven. In der Astronomie wurde – und das ist bis heute so – ein Kreis in 360 Grad unterteilt. Der Winkel eines Grads besteht jeweils aus 60 Minuten und jede Minute lässt sich wiederum in 60 Winkelsekunden unterteilen. Wenn man in diesem System zwei Werte miteinander multiplizieren möchte, wird es kompliziert: Man muss in der Regel zwischen den Winkeleinheiten hin- und herwechseln.

Relikte aus einer anderen Zeit

Neben Winkelangaben nutzen wir bis heute weitere Relikte, die nicht auf dem Dezimalsystem fußen, etwa bei der Uhrzeit. Diese basiert aus historischen Gründen auch auf dem Sexagesimalsystem. Daher fallen Berechnungen damit meist kompliziert aus. Ein Beispiel: Wenn eine Person durchschnittlich sieben Stunden und 18 Minuten pro Nacht schläft, wie lange schläft sie dann im Mittel pro Woche? Um das richtige Ergebnis zu erhalten, kann man die sieben Stunden und 18 Minuten zunächst vollständig in Minuten umrechnen (438 Minuten); mit sieben multiplizieren (3066 Minuten) und das Ergebnis dann in Stunden und Minuten zurückrechnen: 51 Stunden und 6 Minuten. Falls Sie einen Taschenrechner zur Hand haben, geht das natürlich schnell. Ohne elektronische Hilfsmittel ist es schon etwas aufwändiger.

Bianchini, der eine Lehre als Händler abgeschlossen hatte und auch als Astronom und Mathematiker tätig war, erkannte schon früh, dass das Dezimalsystem viele Vorteile bietet. In den vorherigen Jahrhunderten hatten die arabischen Zahlen ihren Weg nach Europa gefunden, inklusive eines Symbols für die Null. Da diese Zahlendarstellung auf einem Zehnersystem beruht, erweist sich auch ein Einheitensystem, das die Basis 10 nutzt, als praktisch. Da ein solches fehlte, erfand Bianchini sein eigenes Einheitensystem, bei dem ein Fuß aus zehn »Unties« besteht, die sich wiederum in zehn »Minuta« unterteilen, in die dann zehn »Secunda« passen. Doch leider setzte sich sein System nicht durch – erst mit der Französischen Revolution gewann das metrische System in Europa langsam an Fahrt.

Bianchini schien damals seiner Zeit voraus. Dennoch wurde ihm in der Wissenschaftsgeschichte bisher nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das könnte sich nun ändern. Denn offenbar hat Bianchini eine wichtige Notation erfunden: das Dezimaltrennzeichen. Der Mathematiker Leonardo Fibonacci hatte schon im 13. Jahrhundert Bruchzahlen eingeführt, ähnlich wie wir sie heute benutzen. Und im Jahr 1436 tauchten in Konstantinopel und wohl etwas später im türkisch besetzten Saloniki tatsächlich auch Dezimalbrüche auf, also Bruchzahlen zur Basis zehn. Wollte man im Mittelalter aber einen gebrochenzahligen Wert angeben, nutzte man entweder Brüche oder spaltete die Zahl in Unterkategorien auf, etwa 3 Stunden, 6 Minuten und 15 Sekunden. Doch seien wir ehrlich: Wenn man etwas mit Stift und Papier ausrechnen möchte, erweist sich eine Dezimalschreibweise mit Nachkommastellen häufig als deutlich einfacher.

Das lästige Umrechnen fällt weg

Bisher waren Mathematikhistoriker davon ausgegangen, dass der deutsche Mathematiker Christopher Clavius im Jahr 1593 erstmals Nachkommastellen nutzte. Er hatte mit dieser Schreibweise Werte einer Sinusfunktion für verschiedene Winkel angegeben. Doch Geschichtswissenschaftler wundern sich schon lange. Warum hat Clavius diese Schreibweise niemals weiter erwähnt? Nun hat van Brummelen eine mögliche Antwort auf die Frage gefunden: weil Clavius das Dezimaltrennzeichen nicht erfunden hat, sondern es bereits kannte.

Van Brummelen stieß auf diese Erkenntnis, während er in einem Mathematik-Lerncamp Schülerinnen und Schüler unterrichtete. Abends brütete er über der »Tabulae primi mobilis B«, die Bianchini um das Jahr 1440 geschrieben hatte. Die Schrift enthält mehrere trigonometrische Tabellen, unter anderem eine Sinustabelle, die Astronomen nutzten, um die Positionen der Sterne anzugeben. Bianchini gab die Winkel wie üblich in Grad, Minuten und Sekunden an. Doch die zugehörigen Sinuswerte, die aus physikalischer Sicht einer Länge entsprechen, enthielten Nachkommastellen in unserer Dezimalschreibweise: Die erste Nachkommastelle entsprach einem Zehntel, die zweite einem Hundertstel und so weiter. Nachdem van Brummelen das entdeckt hatte, war er völlig außer sich vor Aufregung und rannte durch die Gänge des Wohnheims, in dem das Mathecamp stattfand. Verständlich, denn er hatte damit den Beweis gefunden, dass die Nutzung von Nachkommastellen ganze 150 Jahre älter ist als bisher angenommen.

Heute ist ein Zahlensystem ohne Nachkommastellen überhaupt nicht mehr denkbar. Wie sonst ließe sich zum Beispiel der Zahlenwert einer irrationalen Zahl wie π oder √2 angeben? Außerdem fällt so das lästige Umrechnen in willkürliche Untereinheiten weg. Van Brummelen mutmaßt, dass Bianchinis betriebswirtschaftliche Ausbildung zu seiner Entdeckung beigetragen hat. Mit diesem Hintergrund war er, im Gegensatz zu anderen Astronomen, nicht gewohnt, im Hexagesimalsystem zu rechnen – und wurde kreativ.

Dieser Artikel wurde am 14. März 2024 um eine Information über die Nutzung von Dezimalbrüchen im 15. Jahrhundert ergänzt.

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