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Digitalisierung und Umweltschutz: Das große Scheitern

2015 warnte das »DigitalManifest« in »Spektrum der Wissenschaft« vor Verhaltensmanipulation und heraufziehender Datendiktatur. Demokratie und Menschenrechte seien in Gefahr. Es wurde ein neuer Ansatz bei der Digitalisierung gefordert. Wenngleich es auch Fortschritte gab, muss dringend gewarnt werden. Die Gefahr des technologischen Totalitarismus ist keineswegs gebannt. In Zeiten des Klimawandels ist er wahrscheinlicher denn je, warnt Dirk Helbing.
Künstliche Intelligenz

Es hätte alles so schön sein können. Daten, Informationen und das Wissen der Welt stünden jedem zur Verfügung, der verantwortungsvoll damit umgeht. Roboter nähmen uns gefährliche und lästige Arbeit ab. Und ein Leben, in dem wir unablässig schuften müssen, um existieren zu können, wiche einem Leben, in dem wir uns mit Kunst, Philosophie, Freunden, Natur und Spiritualität befassen. Aber es kam vorerst alles anders.

Obwohl angeblich »alles ständig besser wird« und wir von einem Börsenrekord zum nächsten jagen, lassen sich die dunklen Wolken am Horizont nicht mehr gänzlich verleugnen. Die Finanzkrise, kombiniert mit der massiven Geldschöpfung durch »Quantitative Easing« (eine unkonventionelle Form der Ausweitung der Geldbasis durch eine Zentralbank, Anm. d. Red.), hat auf der Welt zu einer nie da gewesenen Ungleichheit geführt. Inzwischen haben auch in Deutschland viele Menschen Mühe, ihre Miete zu bezahlen. Oxfam errechnete, dass die acht reichsten Menschen mehr besitzen als die arme Hälfte der Weltbevölkerung. Aber es geht um weit mehr als um Besitz. Es geht um Leben und Tod, um eine substanzielle Bedrohung der Biosphäre – nicht mehr und nicht weniger. Vögel und Insekten sterben in Massen, und die Menschheit erwartet in diesem Jahrhundert Rohstoffkrisen. Wir werden es wohl noch erleben.

Dirk Helbing | ist Professor für Computational Social Science am Department für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften sowie Mitglied des Department of Computer Science der ETH Zürich. Seine aktuellen Studien diskutieren global vernetzte Risiken und die versteckten Gesetzmäßigkeiten der globalen Seuchenausbreitung. An der Technischen Universität Delft leitet er das Doktorandenprogramm »Engineering Social Technologies for a Responsible Digital Future«. Er ist zudem gewähltes Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften.

Diese Prognosen kennt man schon seit beinahe 50 Jahren. Das Buch »Die Grenzen des Wachstums« des Club of Rome hat uns bewusst gemacht: Die Ressourcen unseres Planeten sind nicht unbegrenzt. Doch darüber hinaus prognostizierten die Computersimulationen für die Zukunft der Welt, dass sich die Bevölkerungszahl nicht stabilisieren wird, sondern dass es voraussichtlich zu einem Wirtschaftskollaps und einem Massensterben kommen wird. Öl- und Gasreserven werden aufgebraucht werden und Wasser zumindest regional wahrscheinlich knapp. Auch von einer sich anbahnenden Klimakrise liest man schon seit den 1970er Jahren, und dass die Demokratie sie nicht bewältigen wird.

Damals hatten wir offenbar verstanden. Wir waren bereit, umweltfreundlicher zu handeln. Es gab autofreie Sonntage, an denen man Radtouren machte, und man benutzte »Jute statt Plastik«. Die Umweltbewegung kam auf. Die Grünen wurden gegründet. Hätten wir jedes Jahr den Ressourcenverbrauch um drei Prozent reduziert, was technologisch durchaus machbar gewesen wäre, dann würden wir heute global nachhaltig leben. Doch dann gab es neue Parolen.

Denn viele Industriezweige wollten von solchen Szenarien nichts wissen. Stattdessen hieß es, müsse man die Ressourcen der ganzen Welt erschließen. Es kam die Globalisierung. Sozialverträgliche Arbeit wurde ersetzt durch teilweise sklavenartige Arbeit in Billiglohnländern. Die Umweltstandards wurden ebenso umgangen, was zu Raubbau und Umweltzerstörung in einem Ausmaß führte, dass viele Geowissenschaftler ein neues Erdzeitalter ausrufen wollen: das Anthropozän. Das erwirtschaftete Geld wurde in erheblichem Umfang in Steueroasen versteckt. Indessen blieben Menschlichkeit und Umwelt auf der Strecke.

Krise wurde zum Geschäftsmodell

Der Politik wurde versprochen, wenn ein Problem nur schlimm genug werde, dann sorge der Kapitalismus schon für Innovationen, die es lösen, denn dann gäbe es ja entsprechend große Anreize, um erfinderisch zu sein. Damit wurde die Krise gewissermaßen zum profitablen Geschäftsmodell gemacht.

Auch die Wissenschaft feierte einen Erfolg nach dem anderen: Mondfahrt, Atomkraft, Gen- und Nanotechnologie, Supercomputer, Internet und Smartphones, die einst als Sciencefiction galten. Alles schien machbar. Die Politik spielte das Spiel mit – und bemerkte nicht, dass sie nach der Pfeife derer tanzte, die sie kontrollieren sollte. Wenn man nicht mitspielte, hieß es, dann gingen Investitionen und Arbeitsplätze woanders hin. Erpressung wurde zu einer Grundlage der Politik und dies mit der Finanzkrise evident.

Als die Digitalisierung kam, war auf den ersten Blick alles wunderbar. Man konnte effizient mit Freunden in der Distanz kommunizieren, Informationen leichter finden, fremde Städte erkunden, bequemer einkaufen. Doch mit dem 11. September 2001 kam der »Krieg gegen den Terror« und eine Massenüberwachung ungeahnten Ausmaßes. Nach dem arabischen Frühling, der so genannten Twitter-Revolution, erkannten Regierungen, dass Meinungen manipulierbar waren – und nutzten dies selbst. Die Wirtschaft entdeckte das Neuromarketing. Mit personalisierten Informationen ließen sich Menschen unbemerkt manipulieren. Das war verlockend …

Es folgte eine Zeit von Wahlmanipulation, Fake News und Informationskriegen. Leute wurden manipulierbar und desinformiert. Mit den Demokratien der Welt ging es bergab. So, wie es verkündet worden war. »Die Demokratie ist eine veraltete Technologie«, schreibt der Journalist Kai Schlieter in seinem Buch »Die Herrschaftsformel«. Unternehmen wie Apple, Amazon, Facebook, Google, IBM, Microsoft wollten die Welt regieren, ganz nach dem Prinzip: »Code is Law«. Algorithmen sollten jetzt bestimmen, was geht und was nicht, wer schuldig ist und wer nicht und wer Zugang zu welchen Ressourcen erhält. Predictive Policing und CitizenScores markierten das heraufziehende Zeitalter des Überwachungskapitalismus und des technologischen Totalitarismus. Doch was als »chinesisches System« kritisiert wird, kann im »asiatischen Jahrhundert«, wie die kommenden Dekaden zum Teil bereits genannt werden, auch bei uns Einzug halten.

Inzwischen wissen wir nicht mehr, wer welche Daten über uns hat und wie sie benutzt werden. Wir wissen nur, dass wir zunehmend Unternehmen ausgeliefert sind, die wir oft nicht einmal kennen, die uns aber besser manipulieren können als unsere Freunde. Doch aussuchen können wir sie uns nicht. Indessen wuchsen Geheimdienste und Cybersecurityzentren heran, die ein Vieltausendfaches an Daten über uns sammelten, als die Stasi je hatte. Schon in naher Zukunft soll nichts mehr anonym sein. Jeder soll eine eindeutige elektronische Identität haben. Per biometrischem Zugang sollen wir zum Passwort werden. Das wäre ein weiterer Verstoß gegen die Menschenwürde, die Basis unserer Demokratie. Damit müsste man die Digitalisierung für gescheitert erklären.

Derweil explodiert der Stromverbrauch der Datenzentren, die wie Pilze aus dem Boden schießen. 2030 werden digitale Technologien ganze 20 Prozent des weltweiten Stromverbrauchs konsumieren, und die Umweltprobleme sind weiter ungelöst. Die Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy, welche die aufziehende Ressourcenkrise abwenden könnten, kommen nur langsam voran. Doch weltweit scheut man sich vor der Schlussfolgerung: »Wir haben es vermasselt! Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, wird das Paradies auf Erden nicht erschaffen.« Das Prinzip »jeder gegen jeden« wird wohl in einer der riesigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und Umweltkrisen globalen Ausmaßes enden und dem größten Massensterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier – wenn wir nicht lernen, mit Mensch und Umwelt zu kooperieren.

So lenken wir die Digitalisierung in die richtige Richtung

Noch ist es nicht zu spät. Mit digitalen Innovationen können wir das Geld-, Finanz- und Wirtschaftssystem neu erfinden, eine Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy bauen, kombinatorische Innovation ermöglichen, die Demokratie aufwerten, kollektive Intelligenz fördern, verfassungsrechtliche und kulturelle Werte in Informationsplattformen einbauen und eine faire Mitmachgesellschaft kreieren, von der wir alle profitieren.

Eine neue gesetzliche Regelung, wer welche Daten nutzen darf, könnte viele Probleme lösen. Dazu gezwungen zu werden, die »Terms of Use« zu akzeptieren, um überhaupt einen Service zu bekommen, hat mit informationeller Selbstbestimmung wenig zu tun. Stattdessen schlage ich vor, eine Plattform für informationelle Selbstbestimmung zu schaffen, die unsere Menschenwürde wirklich respektiert. Das ist nicht der Fall, wenn uns andere mit persönlichen Daten manipulieren können, ohne dass wir es merken.

Persönliche Informationen sollten stattdessen in ein persönliches Datenpostfach gesandt werden, wo man die Verwendung der Daten selbst verwalten kann. Die Bürgerinnen und Bürger würden also selbst entscheiden, wer welche persönlichen Informationen für welchen Zweck, Zeitraum und Preis verwenden dürfte. Der Wettbewerb um den Zugang zu Daten würde zu einem Vertrauenswettbewerb und so zu einer digitalen Vertrauensgesellschaft führen.

Alle personalisierten Produkte und Services wären möglich, soweit wir ihnen zustimmen. Vorteile daraus wären für Bürgerinnen und Bürger, Gesellschaft und Unternehmen zu erwarten. Insbesondere würde ein Level Playing Field entstehen. Auch KMUs, Spinoff Companies, NGOs und wissenschaftliche Institutionen würden potenziell Zugang zu Big Data erhalten und könnten so zur Wertschöpfung (also zur Hebung des Datenschatzes) und zur Lösung der Weltprobleme beitragen. Bei der Verwaltung unserer Daten würden wir durch digitale Assistenten – personalisierte KI-Systeme – unterstützt, welche die Einstellungen unseren Wünschen entsprechend vorkonfigurieren.

Ein solcher Ansatz würde Missbrauch reduzieren, aber Menschenrechte, Demokratie und Wirtschaft stärken. Er könnte auch energieeffizienter und nachhaltiger sein, da nicht mehr jeder eine eigene Datensammlung anlegen müsste, was zu enormen Redundanzen und unnötigem Energieverbrauch führt.

Weitere Vorteile verspreche ich mir von einem pluralistischen, multidimensionalen Ansatz. Ich glaube nicht, dass die Weltprobleme überwiegend durch Optimierung lösbar sind. Dies setzt die Wahl einer Zielfunktion voraus, die jedoch dem Prinzip nach eindimensional ist (sonst kann man »bessere« und »schlechtere« Lösungen nicht vergleichen). Damit aber wird die Welt dramatisch übersimplifiziert. Es gibt nicht einmal eine Wissenschaft, um die richtige Zielfunktion zu ermitteln. In der Vergangenheit war das Bruttosozialprodukt pro Kopf maßgeblich. Dies hat allerdings die Nachhaltigkeits- und Klimakrise verursacht.

Wird die Wahl einer anderen Zielfunktion helfen? Ich denke, nein. Denn solange man ein einziges Ziel verfolgt, vernachlässigt man die anderen, bis daraus schließlich ein Problem entstanden ist, das größer ist als jenes, das man gerade zu beseitigen versucht. So läuft man den Problemen immer hinterher.

Die Natur, basierend auf der Evolution, funktioniert anders. Sie optimiert nicht, sondern sie experimentiert, und die besseren Lösungen verbreiten sich schneller. Eine eindimensionale Steuerung gibt es nicht, sondern vielmehr multidimensionale Feedbackschleifen.

Die Welt ist kein Nullsummenspiel

Ein solches System können wir nun auch für unsere komplexe, vernetzte Welt bauen – durch Kombination des Internets der Dinge mit lokalen Anreizen. Die so entstehenden »digitalen Kräfte« könnten die heutigen Lieferketten in Richtung einer Kreiswirtschaft entwickeln. Das multidimensionale Finanzsystem, von dem ich hier spreche, ließe sich so ausgestalten, dass es die diversen sozialen und ökologischen Ziele fördert, die wir erreichen wollen.

Daher denke ich, dass Effizienz und Nachhaltigkeit, Demokratie und Prosperität keine Widersprüche sind. Sie können sich stattdessen gegenseitig verstärken, wenn wir den richtigen Rahmen schaffen. Mit Instrumenten wie dem Climate City Cup kann man solches Denken und kollektives Handeln fördern. So würden die besten Mechanismen, die wir heute kennen, miteinander kombiniert: Wettbewerb (Kapitalismus), kollektive Intelligenz (Demokratie), Experimentieren (Evolution) und intelligentes Design (KI).

Das Wichtigste aber ist: Die Welt ist kein Nullsummenspiel, wo einer verlieren muss, damit ein anderer gewinnen kann. Vielmehr würde eine Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy mehr Lebensqualität für alle ermöglichen. Das ist durch ein partizipatives, multiperspektivisches Informationsökosystem zu erreichen, nicht durch Überregulierung. Insgesamt würde der vorgeschlagene Ansatz die Menschenwürde stärken und zur Lösung der Probleme beitragen, vor denen wir stehen. Durch die Förderung von symbiotischen und Synergieeffekten würde er Prosperität und Frieden fördern statt Konflikte.

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  • Quellen
https://www.spektrum.de/kolumne/eine-strategie-fuer-das-digitale-zeitalter/1376083

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