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Lobes Digitalfabrik: Das Recht, kein Cyborg zu sein

Der Futurist Gerd Leonhard stellt in seinem Buch "Technology vs. Humanity" einige wichtige Fragen zur digitalen Ethik.
Auf dem Weg zum Cyborg?

Der Bundestagswahlkampf geht in seine entscheidende Phase, doch die großen Zukunftsthemen werden kaum verhandelt. Der Punkt Digitalisierung taucht in Debatten nur selten auf, und wenn, dann nur als Schlagwort, mit dem sich Politiker profilieren wollen. Umso erfrischender ist es, dass die Publizistik sich der Frage annimmt. Der Zukunftsforscher Gerd Leonhard hat ein sehr kluges Buch ("Technology vs. Humanity: Unsere Zukunft zwischen Mensch und Maschine"), geschrieben, das kürzlich auf Deutsch erschienen ist. Darin entwirft er durchaus provokativ einige Szenarien für das Maschinenzeitalter. In zwölf Kapiteln beschreibt er so interessante Ideen wie eine "digitale Diät" als Antwort auf die Epidemie der "digitalen Fettsucht" oder die Cloud als "Fortsetzung unseres Selbst".

Das wohl interessanteste Kapitel ist jenes über die digitale Ethik. Leonhard postuliert fünf neue Menschenrechte für das Digitalzeitalter:

  1. Das Recht, ein natürlicher und nichtaugmentierter Mensch zu bleiben. "Wir müssen die Wahl haben, biologisch und genetisch unerweitert zu bleiben, also nicht Cyborgs werden zu müssen, um überhaupt noch mithalten zu können."
  2. Das Recht, ineffizient zu sein, wenn davon unsere Menschlichkeit abhängt. "Wir brauchen unbedingt die Option, langsamer sein zu dürfen als Technologie – Effizienz darf nicht wichtiger werden als Menschlichkeit."
  3. Das Recht abzuschalten. "Offline wird womöglich der nächste große Luxus sein, aber es sollte grundsätzlich ein digitales Grundrecht bleiben."
  4. Das Recht, anonym zu bleiben. "In dieser kommenden Welt dauernder Konnektivität sollten wir dennoch die Option haben, nicht identifiziert und verfolgt zu werden, etwa wenn wir eine digitale Anwendung oder Plattform benutzen oder wenn wir etwas kommentieren oder kritisieren."
  5. Das Recht, Menschen zu beschäftigen statt Maschinen. "Wir sollten nicht zulassen, dass Firmen oder Arbeitgeber benachteiligt werden, wenn sie es vorziehen, Menschen zu beschäftigen statt Maschinen, auch wenn sie teurer und weniger effektiv sind."

Die Vorschläge sind diskussionswürdig und innovativ, auch wenn sich manches mit der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union deckt, die unter anderen vom SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz und dem Philosophen Jürgen Habermas unterzeichnet wurde. Und gewiss lassen sich einige Gebote auch aus dem Grundgesetz oder der Europäischen Menschenrechtskonvention ableiten – diese Kritik wurde immer wieder gegenüber der Digitalcharta vorgebracht. Doch man kann nicht oft genug betonen, dass die Automatisierung keinen technologischen Darwinismus begründen darf, wonach nur derjenige mit der künstlichen Intelligenz Schritt halten kann, der sich verdrahtet und zum Cyborg aufrüstet – eine Ansicht, die Tesla-Gründer Elon Musk vertritt. Zur Freiheit gehört es auch, entscheiden zu können, ob man sich eine Datenbrille aufsetzt oder einen Chip implantiert.

Das Problem ist, dass sich bestimmte Entwicklungen, etwa die Verbreitung internetfähiger Geräte, trotz des Wissens um deren Problematik wie Hackergefahren oder Datendiebstahl kaum aufhalten lassen. Wer den technischen Fortschritt kritisiert und Bedenken anmeldet, gilt gleich als technikfeindlich. Man hat praktisch keine Wahlfreiheit, ob man sich beim Kauf eines neuen Fernsehers für oder gegen einen Smart-TV entscheidet, obwohl man weiß, dass die CIA solche Geräte abhört. Das Recht abzuschalten, hört sich auf dem Papier gut an. Doch in der Realität erweist sich dieses Recht als kaum durchsetzungsfähig, weil Mails oder WhatsApp-Nachrichten der Antwort harren. Wenn man zwei Tage seinen Account ruhen lässt, machen sich die Freunde bereits Sorgen, ob man noch lebt. Die physische Existenz ist von der virtuellen Existenz kaum zu trennen.

Was kommt nach dem Implantat?

Und auch an der modernen Arbeitswelt kann man ohne einen Internetzugang schwerlich partizipieren – es sei denn, man ist Philosoph und verharrt in seiner Studierstube. Wer möchte dauerhaft als analoger Bohemien in einem internetfreien Raum leben? Das kann nur eine kurzfristige Ausstiegsoption sein. Versuche, der Entgrenzung von Arbeit und Freizeit Einhalt zu gebieten, etwa die Löschung von E-Mails im Urlaub, wie es Daimler praktiziert, weisen in die richtige Richtung. Doch die Rhetorik vom Abschalten impliziert, dass der Mensch wie eine Maschine operiert, dass er sich einredet, funktionieren zu müssen, dass er zunächst unter Dampf, dann unter Strom stand und sich nach einem Reset sehnt.

Die US-Firma "Three Square Market" ließ ihren Mitarbeitern kürzlich Mikrochips implantieren, damit sie kontaktlos Türen öffnen oder Snacks bezahlen können. Die Aktion wurde als "Chip-Party" eventisiert. Die Angestellten erhielten hernach ein T-Shirt mit der Aufschrift "I got chipped!" ("Ich wurde verchippt!"). Was als hip und progressiv erscheint, ist in Wirklichkeit eine Gefahr. Wenn sich Angestellte zum Cyborg aufrüsten, zerlegen sie sich selbst zum Automaten – und werden steuerbar. Was passiert, wenn man sich diesem "Enhancement" widersetzt? Wenn man auf seinem analogen Dasein beharrt? Gerd Leonhard stellt in seinem Buch die ebenso kluge wie verstörende Frage: "Wird technischer Fortschritt früher oder später bedeuten, dass Menschen, die zu viele dieser nicht maschinenlesbaren Eigenschaften aufweisen, als nutzlose Menschen (...) oder als Zeitverschwender angesehen werden oder, schlimmer noch, als Sand im Getriebe der hypereffizienten Maschinen?" Der Autor vermag auf diese Frage keine Antwort zu geben. Doch zumindest darüber nachdenken sollte man.

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