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Warkus' Welt: Das umrundete Eichhörnchen

Über Begriffe kann man sich vortrefflich streiten. Wenn man sich die Frage stellt, ob das sinnvoll ist oder bloß Haarspalterei, kommt der philosophische Pragmatismus ins Spiel.
Eichhörnchen am Baum

Ein Wanderer umrundet einen Baum, um ein Eichhörnchen auf der anderen Seite näher zu betrachten. Leider ist das flinke Tier nicht einzuholen: Es bewegt sich seitwärts, und so bleibt der Baumstamm immer zwischen Tier und Mensch. Am Abend streiten sich der Wanderer und seine Freunde am Lagerfeuer: Hat er das Eichhörnchen umrundet oder nicht?

Warum kann man sich darüber überhaupt streiten? Es stellt sich heraus, dass die verschiedenen Wanderer, ohne es recht zu bemerken, unterschiedliche Definitionen von »umrunden« anwenden. Geht man davon aus, dass etwas zu umrunden bedeutet, dass man sich links davon, dann davor, dann rechts davon und dann dahinter befindet (oder umgekehrt), dann hat der Mensch das Hörnchen nicht umrundet – das flauschige Nagetier befand sich stets in derselben Lage zum Wanderer, nämlich mit dem Bauch zu ihm gewandt. Setzt man aber fest, dass man, wenn man etwas umrundet, sich zunächst östlich, dann nördlich, dann westlich und dann südlich davon befinden muss (oder umgekehrt), dann hat der Wanderer das Hörnchen in der Tat umrundet.

Das Eichhörnchenbeispiel bildet den Auftakt zu einer berühmten Vorlesung des amerikanischen Philosophen William James (1842–1910) aus dem Jahr 1904. James demonstriert mit ihm das, was in der Philosophie »Pragmatismus« genannt wird. Pragmatismus, wie ihn James' Lehrer Charles S. Peirce (1839–1914) begründet hat, besteht darin, begriffliche Unterschiede auf praktische Auswirkungen im Handeln in der konkreten Alltagswelt zurückzuführen.

Dies kann erst einmal der Klärung von Begriffen dienen. Durch Nachdenken darüber, was »umrunden« konkret heißt, kommen die Wanderer darauf, dass sie in ihren praktischen Auswirkungen voneinander abweichende Definitionen davon haben. Eine Abweichung ist etwa, dass das Eichhörnchenbeispiel nicht unter beide Definitionen fällt; eine andere, dass man unter der einen Definition etwas umrunden kann, ohne sich überhaupt selbst zu bewegen.

Die Wanderer streiten sich um des Kaisers Bart, wenn sie diskutieren, ob das Eichhörnchen umrundet wurde oder nicht

Im Weiteren aber kann der Pragmatismus dann auch dazu dienen, einmal getroffene begriffliche Unterscheidungen zu bewerten: Die beiden Definitionen weichen voneinander zwar ab, aber es hat keine praktischen Konsequenzen, die eine Definition anzuwenden und die andere nicht. Die Wanderer streiten sich um des Kaisers Bart, wenn sie diskutieren, ob das Eichhörnchen umrundet wurde oder nicht.

Anhänger des Pragmatismus fordern meist beides ein: Konflikte sollen erstens dadurch auf den Punkt gebracht werden, dass der Sinn von Begriffen in praktischer Hinsicht aufgeklärt wird. Das geschieht letztlich immer durch Angeben eines Prüfverfahrens, das den abstrakten Begriff mit menschlichem Handeln in Verbindung bringt. Zweitens soll untersucht werden, welche praktisch unterschiedlichen Konsequenzen es mit sich bringt, den Begriff in dem einen oder in dem anderen Sinn anzuwenden, um zu klären, ob die Unterscheidung relevant oder bloß Haarspalterei ist.

Konstruierte Finanzbeamte

Eine philosophische Unterscheidung, an der dieses Kriterium gerne diskutiert wird, ist die zwischen verschiedenen Einstellungen zur Objektivität der Außenwelt. Ich kann meinen, dass die Beamten, die im Jenaer Finanzamt mit meinem Steuerfall befasst sind, Gegenstände in einer von mir völlig unabhängigen realen Außenwelt sind. Ich kann aber auch davon ausgehen, dass es sich bei ihnen um Konstrukte meines Geistes auf Basis von Wahrnehmungshandlungen und mehr oder minder bewährten Hypothesen handelt und dass es völlig unmöglich ist, Vorhersagen dazu zu machen, was mit ihnen passierte, wäre ich nicht mehr da.

Aber was macht das für einen Unterschied? Wenn ich meine Steuern nicht zahle, werden diese Leute, auch wenn ich sie für bloße Konstrukte halte, mir unangenehme Briefe schicken und am Ende irgendwann mein Konto pfänden lassen, so dass ich schlimmstenfalls eines Tages an der Supermarktkasse stehe und mein Essen nicht mehr bezahlen kann. Der praktische Unterschied ist in diesem Fall völlig vernachlässigbar. Bei anderem mag es anders aussehen, zum Beispiel gibt es Hinweise darauf, dass Menschen, die »Völker« oder gar »Rassen« für hieb- und stichfeste objektive Realitäten und nicht bloß für Konstrukte halten, eine Tendenz haben, Handlungen, unter denen Menschen konkret leiden müssen, politisch zu befürworten oder sogar selbst zu vollziehen.

In dieser Kolumne geht es regelmäßig – eigentlich fast immer – darum, dass Philosophie mit Begriffsklärungen zu tun hat: mit dem Zuspitzen von Unterscheidungen durch geordnetes Nachdenken. Aber Begriffsklärungen lassen sich bewerten und auf ihren Sinn hinterfragen: Man kann Begriffskritik betreiben, und Pragmatismus ist ein Rahmen, in dem dies geschehen kann.

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