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Lobes Digitalfabrik: Der Algorithmus als Autor

Kürzlich schrieb ein Computer sogar ein ganzes Fachbuch. Gerade weil die Menschheit in einer Textflut ertrinkt, hat die vollautomatische Textproduktion enormes Potenzial.
Die Stuttgarter Stadtbibliothek

Die Fortschritte, welche die künstliche Intelligenz in den vergangenen Jahren gemacht hat, sind erstaunlich. Computer spielen mittlerweile nicht nur besser Schach, Go und Poker als der Mensch, sondern komponieren auch Lieder, malen Bilder und schreiben Artikel. In Redaktionen und Nachrichtenagenturen kommen Textprogramme (»Roboterjournalisten«) zum Einsatz, die automatisiert standardisierte Finanz- und Sportberichte generieren. Bei Googles Mailangebot Gmail gibt es seit geraumer Zeit die Funktion »Intelligentes Schreiben« (Smart Reply), bei der ein Algorithmus E-Mails analysiert und passende Antwortbausteine vorschlägt. Und bei Universitäten oder Banken werden inzwischen automatisierte Dialogsysteme, so genannte Chatbots eingesetzt, die Anfragen von Kunden beantworten.

Im April 2019 ist bei Springer Nature das »erste maschinengenerierte Buch« erschienen: ein Werk über Lithium-Ionen-Batterien. Ein Algorithmus hat mehr als 50 000 Fachaufsätze zum Thema durchforstet und sie in einer logisch kohärenten Form zusammengetragen. Auf Grundlage eines so genannten Clustering-Verfahrens wurde eine Dokumentenstruktur generiert, in die die kondensierten Texte eingesetzt wurden. Beta Writer, wie der Buchautor heißt, ist eine Koproduktion von Springer Nature und Wissenschaftlern der Goethe-Universität Frankfurt und soll Forschern dabei helfen, Fachliteratur schneller zu durchdringen.

Jedes Jahr werden 2,5 Millionen wissenschaftliche Fachaufsätze publiziert. Selbst in hoch spezialisierten Disziplinen ist es schwierig, die relevanten Publikationen im Blick zu behalten. Der Computer soll nun seine gigantische Rechenpower ausspielen und als eine Art Hilfswissenschaftler Textmengen durchpflügen, die ein Forscher niemals selbst lesen könnte.

Die Meldung über das computergenerierte Buch sorgte nicht nur in der Verlagswelt für Aufsehen. Schreiben Algorithmen jetzt bald auch noch Bücher? Wem gebühren die Urheberrechte? Den Programmierern? Den Studienautoren? Dem Computer? Oder einem Autorenkollektiv aus Mensch und Maschine? Und wird der ohnehin schon übersättigte Buchmarkt mit noch mehr Publikationen geflutet, so dass man immer mehr Algorithmen braucht, um die Vielzahl der Neuerscheinungen überblicken zu können?

Nicht schreibende Roboter sind die Gefahr …

Um den Befürchtungen sogleich entgegenzutreten: Der Algorithmus hat keine eigene Forschung betrieben und auch nicht geschrieben, sondern lediglich die Erkenntnisse von Wissenschaftlern aggregiert – und zwar nach Vorgaben, die ihm menschliche Entwickler einprogrammiert haben. Auch Schreibautomaten, die Drehbücher oder Romane schreiben, sind ja nicht kreativ, sondern sampeln lediglich altes Material und fügen es zu neuartigen Plots zusammen. Eine Gefahr ist Beta Writer also nicht, im Gegenteil: In der automatisierten Erkenntnisproduktion liegt eine große Chance für die Wissenschaft.

Ein neuronales Netzwerk hat jüngst Zusammenhänge in alten Fachaufsätzen entdeckt, die menschlichen Forschern jahrelang verborgen blieben. Der maschinell lernende Algorithmus wurde von Wissenschaftlern des Lawrence Berkeley National Laboratory mit 3,3 Millionen Abstracts (Zusammenfassungen von Fachaufsätzen) gefüttert und besaß am Ende des Trainings einen Wortschatz von 500 000 Wörtern. Obwohl der Algorithmus keine Definition von Thermoelektrik und auch sonst keine Ahnung von dem Thema hatte, gelang es ihm allein durch Wortkombinationen, Zusammenhänge zwischen den Aufsätzen herzustellen und Vorhersagen über thermoelektrische Materialien zu treffen. »Er (der Algorithmus) kann jedes Paper über Materialwissenschaft lesen und so Verbindungen sehen, die kein Wissenschaftler herstellen könnte«, sagte der Computerwissenschaftler Anubhav Jain. KI-Systeme könnten nicht nur in Bildmaterial, sondern auch in Texten Muster erkennen und der Forschung an der entscheidenden Stelle zum Durchbruch verhelfen. Die Potenziale sind riesig.

Im April 2019 haben Wissenschaftler des MIT das Konzept eines neuronalen Netzwerks vorgestellt, das Fachaufsätze scannt und selbstständig Zusammenfassungen erstellt – und so die Forscher entlastet. Solche KI-Systeme könnten theoretisch auch forschungsbegleitend Ergebnisse protokollieren und zu einem Paper zusammenfassen. Schreiben gilt ja gerade in der Naturwissenschaft als eher lästige Aufgabe.

… sondern Forscher, die sich roboterhaft verhalten

Die Frage ist, was letztlich Eingang in die Publikationen findet und wie verlässlich die Peer-Review-Verfahren sind, die schon seit einiger Zeit in der Kritik stehen, weil sie methodische Mängel nicht erkennen. Im Jahr 2005 erstellten drei MIT-Studenten mit einem von ihnen entwickelten Textgenerator einen Nonsens-Aufsatz mit weitgehend erfundenen Zitaten und Grafiken und reichten ihn bei der World Multiconference on Systemics, Cybernetics and Informatics (WMSCI) ein, einer Konferenz, die für ihre laxen Prüfverfahren bekannt war. Die Publikation wurde akzeptiert – die Veranstalter waren bloßgestellt.

Der neuseeländische Robotikforscher Christoph Bartneck hat 2016 mit der Autocomplete-Funktion von iOS ein ganzes Paper über Atomenergie geschrieben – obwohl das gar nicht sein Fachgebiet war. Den mit Formeln gespickten Aufsatz hübschte er mit einer Wikipedia-Grafik von Kernteilchen auf und reichte es unter falschem Namen – als fiktive Atomphysikerin Iris Pear von der Umbria Polytech University, die es ebenfalls nicht gibt – bei der International Conference on Atomic and Nuclear Physics ein. Drei Stunden später wurde das Paper akzeptiert. Das warf freilich kein gutes Licht auf die Gutachter.

Die Gefahr für das Wissenschaftssystem besteht nicht darin, dass Roboter Fachaufsätze oder ganze Bücher schreiben, sondern dass Forscher sich roboterhaft verhalten. Man braucht sich also keine Sorgen zu machen, dass Roboter nach dem Lehrstuhl greifen. Wie sagte der Künstler Ross Goodwin so schön: »Wenn wir Computer das Schreiben lehren, ersetzen uns Computer genauso wenig wie das Klavier den Pianisten – sie werden auf gewisse Weise zu unseren Stiften, und wir werden mehr als Schreiber. Wir werden die Schreiber der Schreiber.«

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