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Ein Quantum Wahrheit: Sieh an, sieh an!

Dinge, denen wir regelmäßig begegnen, erscheinen uns mit der Zeit attraktiver. Das besagt der Mere-Exposure-Effekt. Doch alles kann man sich nicht schöngucken, erklärt unser Psychologie-Kolumnist.
Eine Gruppe von Studierenden sitzt in einem Hörsaal. Eine junge Frau in der Mitte mit einem blauen Pullover schaut direkt in die Kamera. Vor ihr befindet sich ein Tablet mit Notizen. Die Atmosphäre ist aufgekratzt und lernorientiert.
Ob sie wohl mit ihrer Nachbarin Freundschaft knüpft? Neben wem man in einer Erstsemestervorlesung zufällig zu sitzen kommt, kann Auswirkungen für das Leben haben.
Irren tun immer die anderen. Man braucht etwas nur oft genug zu hören, um es zu glauben. Und wer sein Gegenüber imitiert, wirkt sympathisch. Der Wissenschaftsjournalist und Bestsellerautor Steve Ayan stellt in seiner Kolumne »Ein Quantum Wahrheit« die wichtigsten Effekte und Verzerrungen der menschlichen Psyche vor.

Zajonc! Wie gut gefällt Ihnen dieses Wort? Geben Sie ihm bitte einen Wert zwischen -5 (»furchtbar«) und +5 (»phänomenal«). Einen Moment Geduld, bitte, wir kommen gleich darauf zurück …

Bekanntlich kann man sich von anderen etwas abgucken oder sich in sie vergucken, man kann hin- und zu- und weggucken – aber kann man sich etwas auch schöngucken? Und wenn ja, wie?

Das fragte sich vor etlichen Jahren der Psychologe Robert Zajonc. Dessen Nachnamen spricht man so ähnlich aus wie den der US-Sängerin Beyoncé, nur mit weichem Z statt B und ohne e am Ende. Zajonc selbst pflegte zu scherzen: »Zajonc reimt sich auf science.« Womit er seinen wissenschaftlichen Anspruch untermauern wollte.

Der Mann stammte aus dem polnischen Lodz, geboren 1923, und war nach der Nazizeit über Tübingen und Michigan an die Stanford University nach Kalifornien gelangt, wo er ein bekannter Experimentalpsychologe wurde. In einer seiner Studien präsentierte er Studierenden eine Menge Wörter, die ihnen nichts sagten – Kunststück, sie waren teils ausgedacht, teils etwa dem Türkischen entlehnt. Dennoch sollten die Probanden raten, ob die Ausdrücke eher etwas Positives oder etwas Negatives bedeuteten.

Der Clou: Die Wörter wiederholten sich im Verlauf des Tests unterschiedlich oft, manche alle naslang, andere so mittel und wieder andere erschienen nur ein einziges Mal. Und siehe da: Die Frequenz des Auftretens machte einen großen Unterschied. Oft gesehene Wörter wurden allmählich positiver bewertet.

Dasselbe Phänomen zeigte sich bei obskuren Schriftzeichen oder Passfotos unbekannter Personen. Je öfter gesehen, desto sympathischer wirkten sie. Ergo: Bekanntheit fördert die Attraktivität. Psychologen nennen das den Mere-Exposure-Effekt, übersetzt in etwa »Effekt des bloßen Kontakts«.

Zajonc erklärte sich seinen Befund so: Häufige Begegnung macht uns mit Dingen vertraut, und von Vertrautem geht keine Gefahr aus – im Gegenteil, man baut eine Bindung dazu auf. »Ach, du schon wieder! Na dann komm, lass uns Freunde sein.« Gemäß diesem Motto knüpfen wir auch soziale Beziehungen – oder glauben Sie etwa, ihre Freundschaften beruhten auf ähnlichen Interessen und Fähigkeiten oder gar jener ominösen »Chemie«, die »stimmt«? Nein, mit wem wir uns zusammentun, das entscheidet oft der Zufall, von manchen auch Schicksal genannt.

In einem Experiment platzierten Psychologen um Mitja Back von der Universität Münster Erstsemester in der Einführungswoche per Los in einem Saal und ließ sie sich dann reihum vorstellen. Im Jahr darauf prüften sie, ob die entstandenen Freundschaften eher vom Charakter oder von der Sitzordnung abhingen. Die Antwort ließe sich so übersetzen: Wenn der Typ schon neben mir sitzt, können wir auch Kumpels werden. »Freunde per Zufall« lautete denn auch der Titel der Arbeit.

Die Grenzen des Mere-Exposure-Effekts

Wie alles in der Psychologie hat auch der Mere-Exposure-Effekt Grenzen. Besonders zwei Bedingungen müssen erfüllt sein, damit er greift: Erstens darf man das betreffende Objekt oder die Person nicht schon von vornherein doof finden; dann droht häufige Begegnung nämlich, die Abneigung noch zu verstärken. Und zweitens darf keine Gewöhnung eintreten. Denn haben wir uns sattgesehen, ist nicht Sympathie, sondern eher Langeweile die Folge. Um dem vorzubeugen, braucht es intermittierendes Auftreten: immer mal wieder, aber nicht am laufenden Band.

Willentlich lässt sich das alles übrigens kaum beeinflussen. Es hilft also weder sich auf den Effekt zu konzentrieren noch ihn sich ausreden zu wollen. Und, wie gut gefällt Ihnen jetzt … Zajonc? Und Back? Nur schade, dass sie inzwischen zu viel wissen und nicht mehr »blind« sind; so macht die Abfrage keinen Sinn mehr. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären!

  • Quellen
Back, M. D. et al., Psychological Science 10.1111/j.1467–9280.2008.02106.x, 2008
Zajonc, R. B., Journal of Personality and Social Psychology 10.1037/h0025848, 1968

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