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Fangquoten: Der Niedergang der Fische

Muss sich die Menschheit Sorgen um eine ihrer wichtigsten Proteinquellen machen? Viele Fischgründe sind jedenfalls stark übernutzt, könnten sich aber erholen. Der Kieler Meeresbiologe Rainer Froese kommentiert die neuesten Bestandszahlen und den Forscherstreit darüber.
Rainer Froese

Beim Blick aus dem Flugzeug erscheinen die Weltmeere riesig, unberührt und unerschöpflich. Aber das Leben im Meer konzentriert sich weniger auf das klare Blau der offenen Ozeane als auf das leichte Grün der flachen Küstengewässer. Hier wird der Ozean von Flüssen oder von aufsteigendem Tiefenwasser gedüngt, hier hat sich, basierend auf kleinsten Grünalgen, ein Nahrungsnetz entwickelt, das uns unzählige Meeresfrüchte liefert. Diese Früchte kann man ernten, ohne gesät zu haben. Allerdings darf man bei den meisten Früchten nicht mehr als etwa 20 Prozent der Menge entnehmen, die im Jahresdurchschnitt im Wasser vorhanden ist, die so genannte Biomasse. Eine solche Entnahme liefert den maximalen Dauerertrag (Maximum Sustainable Yield oder MSY), und die Länder der Welt haben sich 1982 im "Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen" verbindlich auf diese Obergrenze für die Fischerei geeinigt.

Weltweit werden mehrere tausend Arten von Meeresfrüchten wie Fische, Krebse, Muscheln, Tintenfische oder Algen befischt, und die Länder, in denen diese Fänge angelandet werden, liefern jährlich entsprechende Fangdaten an die Welternährungsorganisation (FAO) in Rom. Aber wie geht es eigentlich den Fischen? Wurde tatsächlich nicht mehr als der Dauerertrag MSY entnommen? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach, da formale Bestandsabschätzungen nur für wenige hundert Fischbestände vorliegen, überwiegend aus den temperierten Meeresgebieten der entwickelten Länder. Im Folgenden werde ich diese als "erfasste" Bestände bezeichnen, im Unterschied zu den vielen "nichterfassten" Beständen, für die nur Fangdaten, aber keine Populationsgrößen vorliegen.

Basierend auf den erfassten Beständen veröffentlicht die FAO alle zwei Jahre eine Einschätzung der Weltfischerei. Danach waren im Jahr 2008 etwa drei Prozent der Bestände zusammengebrochen, 28 Prozent überfischt und 50 Prozent bis an die Grenze oder bereits darüber hinaus genutzt. Nur 15 Prozent der Bestände waren leicht genutzt und deshalb größer als etwa die Hälfte der Größe, die ein unbefischter Bestand haben würde. Aber wie repräsentativ sind diese produktiven Bestände und ihre Fischereien? Wie geht es den Fischen in den Entwicklungsländern wirklich?

Zur Beantwortung dieser Frage habe ich 2002 eine einfache Methode entwickelt, die eine grobe Bestandsbeurteilung anhand der Trends in den vorhandenen Fangdaten vornimmt. Diese Methode habe ich dann zusammen mit Kollegen auf alle Bestände mit Fangdaten angewandt – etwa 2000 Bestände weltweit. Dabei wird zum Beispiel ein Fanggrund als zusammengebrochen bewertet, wenn die Fänge weniger als ein Zehntel des vorherigen höchsten Fangs betragen. Die Einfachheit der Methode wurde vielfach kritisiert, und wir haben sie deshalb kürzlich überarbeitet, so dass auch sich erholende Bestände als solche erkannt und bewertet werden. Das war einer der Hauptkritikpunkte. Die neuen Ergebnisse unterscheiden sich aber nicht von den alten, es gibt leider nur sehr wenige sich erholende Bestände. Nach unserer Analyse sind etwa ein Drittel der weltweiten Bestände überfischt und ein knapp ein Viertel bereits zusammengebrochen – mit steigender Tendenz. Diesen Trend haben Kollegen in einer Studie von 2006 hochgerechnet. Sie kamen zu dem erschreckenden Ergebnis, dass bei einem "Business-as-usual"-Szenario alle Bestände bis zum Jahr 2048 zusammenbrechen, also weniger als zehn Prozent ihrer vorherigen Maximalfänge liefern werden. Diese Vorhersage ist in der Folge heftig kritisiert worden. Das hat aber am Trend nichts geändert, die Anzahl der zusammengebrochenen Bestände steigt so wie vorhergesagt weiter.

Vor unserer eigenen Haustür – im Nordostatlantik und im Mittelmeer – sieht es nicht besser aus. In Europa war es bis vor Kurzem offizielle Politik, Fischbestände weit unter dem MSY-Niveau, knapp über der Grenze zum Zusammenbruch zu halten. Dabei wurden alljährlich nicht die nachhaltigen 20, sondern 60 Prozent und mehr der Fische im Meer weggefangen. In der Folge fielen erst die Bestände und dann auch die Fänge unter das MSY-Niveau. Diese verfehlte Politik soll jetzt im Rahmen der europäischen Fischereireform geändert werden. Allerdings gibt es erheblichen Widerstand von den Fischereivertretern, weil eine Erholung der Bestände eine kurzfristige deutliche Verringerung der Fänge voraussetzt. Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Wenn sich die Bestände erholt haben, dann erlauben sie höhere Fänge als heute, weil ein Fünftel eines gesunden großen Bestands häufig mehr sind als 60 Prozent einer überfischten kleinen Population.

Doch zurück zu den Weltfängen: Eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern behauptet, basierend auf Analysen der erfassten Bestände, dass zwei Drittel der Weltbestände so nachhaltig befischt werden, dass sie sich bald auf das MSY-Niveau erholen werden. Andersdenkende wie Daniel Pauly von der University of British Columbia in Vancouver und eloquenter Gegner der Überfischung, wurden ebenso wie ich als Untergangsprophet angeprangert. Vor diesem Hintergrund ist eine neue Studie von Interesse, die sich ausdrücklich mit dem Zustand der vielen nichterfassten Fischbestände beschäftigt. Die Untersuchung von Christopher Costello von der University of California in Santa Barbara und Kollegen benutzt eine neue Methode, nach der aus den Lebensstrategien der jeweiligen Arten, aus den Fangdaten und aus dem Entwicklungszustand der Fischerei die Bestandsgröße relativ zum MSY-Niveau abgeschätzt wird. Diese Methode wurde an den erfassten Beständen getestet und dann auf die nichterfassten angewandt [1].

Die Ergebnisse sind ernüchternd: Vielen kleinen Fischbeständen geht es deutlich schlechter, als man dies von der Analyse der gut erfassten Beständen erwartet hatte. Besonders Hai- und viele Küstenfische liegen im roten Bereich: Ihre mittlere Bestandsgröße liegt unterhalb der Hälfte des MSY-Niveaus – sie gelten damit als vom Zusammenbruch bedroht. Die Entwicklung der unerfassten Fischbestände zeigt auch in dieser neuen Studie deutlich nach unten; die Zahl von 18 Prozent zusammengebrochener Bestände ähnelt der von uns errechneten Zahl von 24 Prozent und liegt deutlich über den von der FAO angenommenen 3 Prozent. Aber es gibt auch hier eine gute Nachricht: Nach einer Erholung der Bestände könnten die globalen Fänge laut der Costello-Studie um 8 bis 40 Prozent zunehmen.

Pikanterweise ist Koautor Ray Hilborn von der University of Washington in Seattle einer der prominentesten "Überfischungsskeptiker": Man könnte also meinen, der Streit um den Zustand der globalen Fischbestände wäre nun beigelegt. Doch dem ist leider nicht so. In einem Interview zu ebendieser Frage wird eine E-Mail von Hilborn wie folgt wiedergegeben: "… die ökonomisch wertvollsten Arten, die 99 Prozent des Fangs ausmachen, sind zurzeit nicht überfischt." Nach Meinung von Ray Hilborn dürfe man Bestände nur dann als überfischt bezeichnen, wenn sie tatsächlich bereits vom Zusammenbruch bedroht sind. Diese Logik wird leider auch von einem bekannten Umweltlabel für Meeresfrüchte und von den Fischereiverbänden vertreten. Solche Wortspiele sollen Konsumenten beruhigen, ändern aber nichts an dem schlechten Zustand der meisten Fischbestände und den daraus resultierenden zu geringen Fängen und zu geringen Gewinnspannen der Fischer. Im norddeutschen Volksmund nennt man das auch "sich selbst in die Tasche lügen".

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  • Quellen
[1] Costello, C. et al.: Status and Solutions for the World's Unassessed Fisheries. In: Science 338, S. 517–520, 2012

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