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Ein Quantum Wahrheit: Hinterher ist man immer schlauer

Das hätte ich besser wissen müssen! Der Rückschaufehler ist ein Klassiker der Psychologie – und ereilt jeden von uns, wie sich unser Kolumnist schmerzlich erinnert.
Eine Gruppe von fünf Menschen in Badebekleidung läuft im Regen einen Weg entlang. Zwei Männer tragen Badehosen, einer hält Schuhe in der Hand. Zwei Frauen schützen sich mit einem Handtuch über dem Kopf, während die dritte Frau ein Handtuch und Schuhe trägt. Im Hintergrund ist grüne Vegetation zu sehen. Die Stimmung wirkt unbeschwert trotz des Sommerregens.
Ach, hätten wir nur mal den Wetterbericht gehört – oder zumindest Schirme mitgenommen … (Symbolbild)

Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen zählt der Tag, an dem ich mir um ein Haar beide Arme ausgekugelt hätte. Es muss in der 9. Klasse gewesen sein und kam so: Unser Sportlehrer Herr Thiel führte vor, wie man lässig an den Ringen hin- und herschwingt, dann die Beine hochreißt und im Rückwärtsfallen die Ringe loslässt, um sauber im Stand auf der Matte am Bode zu landen. Ich sah es und dachte: Easy, das kann ich auch!

Beherzt griff ich zu den Ringen und machte alles genau so wie Herr Thiel. Bis auf ein Detail: Ich ließ nicht los! Mir fehlte wohl der Mut, kopfüber in der Luft rotierend den einzigen Halt aufzugeben und mein Leben den Gravitationsgesetzen zu überlassen. Die Folge: Ich drehte mich einmal komplett in den Schultern durch.

Erstaunlich, was so ein junger Körper aushält! Mir fuhr ein Schmerz in den Nacken, der noch zunahm, als ich den bleichen Herrn Thiel auf mich zustürmen sah. »Alles okay?«, fragte er. Ich nickte stumm. Außer einem Schrecken – und ganz sicher einer Menge Glück – hatte ich tatsächlich nichts.

Während ich am Seitenrand Platz nahm, dachte ich: Wie doof bist du eigentlich? Ich nahm mir vor, fortan genauer zu überlegen, was geht und was nicht. In just diesem Moment hatte ich eine wichtige Lektion gelernt: Hinterher ist man immer schlauer!

Manche typischen Denkfehler, die die Psychologie kennt, sind ja etwas alltagsfern. Es bedarf ausgeklügelter Experimente, um sie nachzuweisen, und diffiziler Theorien, um sie zu erklären. Nicht so beim Rückschaufehler (englisch: hindsight bias). Er schlägt täglich zu, in der Familie, in der Beziehung, im Job. Oder auch beim Blick auf Politik und Gesellschaft, und er hält eine simple Weisheit bereit: Damals wusste man noch nicht, was man heute weiß.

Tollkühn, naiv, dumm – aber nur im Nachhinein

So kennt jeder das »Wie kann man nur so blöd sein, war doch klar, dass das nichts wird!«-Gefühl. Vor allem wenn etwas schiefläuft, glauben wir gern, wir hätten es besser wissen müssen. Dass wir eigene oder fremde Handlungen im Nachhinein oft tollkühn, naiv oder dumm finden, liegt jedoch meist daran, dass es uns notorisch schwerfällt, uns in die Lage und auf den Wissenstand von einst zurückzuversetzen, sobald wir dazugelernt haben.

Daran kranken viele historische Betrachtungen: Wir können uns heute, da wir von Mikroben und DNA wissen oder den Verlauf der Geschichte kennen, die krude Medizin des Mittelalters oder die scheinbare Blindheit früherer Generationen oft kaum erklären. Das erschwert auch die Aufarbeitung der Coronapandemie: Dass man Fehler machte, heißt eben nicht unbedingt, dass man es hätte besser wissen müssen.

Eine Entscheidung muss nicht falsch gewesen sein, nur weil sie nach hinten losging

Was folgt daraus? Erstens die Einsicht, dass die uns Nachfolgenden mit ebenso viel Staunen und Entsetzen, manchmal auch Belustigung, auf die »Alten« herabsehen werden. Zweitens die Erkenntnis, dass es nicht genügt, eine Entscheidung nur an den Resultaten zu messen. Denn sie muss nicht falsch gewesen sein, nur weil die Sache nach hinten losging.

Das Leben, so sagte einmal der Philosoph Sören Kierkegaard (1813–1855), wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden. Doch Vorsicht: Das Gefühl »Mein Gott, wie dumm du warst!« kann trügen. Wir verstehen die Vergangenheit stets nur im Hier und Jetzt. Das hat immerhin ein Gutes: Sich einen überholten Wissensstand nicht mehr vergegenwärtigen zu können, reduziert die Gefahr, die gleichen Fehler erneut zu begehen. Dafür macht man eben andere.

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