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Warkus' Welt: Das ist keine Philosophie

Hinter dem Überfall Russlands auf die Ukraine steckt nicht nur politisches Kalkül, sondern auch eine Ideologie. Diese kommt unter dem Deckmantel philosophischer Legitimation daher – eine Tradition, die uns in Deutschland gut bekannt ist, findet unser Kolumnist Matthias Warkus.
Panzer prorussischer Separatisten in der Ukraine

Der russische Überfall auf die Ukraine, der binnen zwei Wochen bereits zahllose Leben gefordert hat, ist die intensivste militärische Auseinandersetzung auf europäischem Boden seit Ende des Bosnienkriegs 1995, vermutlich sogar seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Zum ersten Mal seit den 1980er Jahren besteht die Gefahr, dass ein lokaler Konflikt zu einem globalen mit Atomwaffen ausgetragenen Krieg eskalieren könnte.

Es ist klar, dass selbst so ein bescheidenes Unternehmen wie eine kurze, vierzehntägliche philosophische Kolumne ein so einschneidendes welthistorisches Ereignis nicht ignorieren kann. Aber ebenso unklar ist es mir, was ich »fachlich« nun dazu schreiben kann. Einen Aspekt, der zumindest im weitesten Sinne mit Philosophie zu tun hat, besitzt dieser spezifische Krieg möglicherweise: Spätestens mit Wladimir Putins Rede zur »Rechtfertigung« des Überfalls am 24. Februar 2022 ist der Weltöffentlichkeit bewusst geworden, selbst wenn sie es vielleicht zuvor nicht wahrhaben wollte, dass hinter den Handlungen der russischen Führung nicht bloß ein irgendwie rationales Kalkül steht, sondern – zumindest auch – eine bestimmte Ideologie.

Diese hat ihre Wurzeln wohl in früheren Herrschaftslegitimationen des russischen Imperiums, darunter die Vorstellung eines »Dreieinigen russischen Volkes«, die unterstellt, dass Russen, Ukrainer und Belarussen in gewisser Weise untrennbar zusammengehörten. Oder jener der »Sammlung russischer Erde«, die Russland den heiligen Auftrag zuschreibt, alle Territorien mit einer bestimmten Geschichte unter seine Herrschaft zu bringen. An diese Traditionen schlossen rechte politische Denker wie Iwan Iljin (1883–1954) und Alexander Dugin (*1962) an.

Russland, gedacht als mehr als der aktuelle russische Staat, nämlich als Machtsphäre unter russischer Hegemonie wie früher das Zarenreich und später der sowjetisch geführte Ostblock, wird dabei als christlicher, bodenständiger, monolithischer Gegenspieler zu einer Sphäre von Dekadenz, wimmelnder Vielfalt, liberaler Belanglosigkeit und allgemeiner Verweichlichung konzipiert. Gemeint ist damit das heutige weitgehend liberale Europa, aber natürlich genauso die USA und der ganze »Westen«. Auch antisemitische Vorstellungen von weltumspannenden Herrschaftseliten spielen eine Rolle.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

An alledem ist zuerst einmal nichts philosophisch; man erkennt Vorstellungen westlicher Rechter wieder und versteht, warum sich beispielsweise deutsche Rechtsextreme so uneins darüber sind, welche Seite sie im Ukraine-Krieg unterstützen sollen. Interessant wird es dort, wo solche politischen Ideologien für sich selbst eine philosophische Einzigartigkeit und Legitimation einfordern. Typisch dafür ist ein Ausdruck aus einer Predigt des Oberhaupts der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, zur Rechtfertigung des Kriegs: Dieser habe »keinen physischen, sondern einen metaphysischen Sinn«.

Dieser »philosophische Sound« ist uns in Deutschland gut bekannt. Es gibt eine gut 200 Jahre zurückreichende Tradition von politischen Theoretikern, die ihre Argumente dazu, warum Deutschland so besonders sei und warum es in bestimmter Weise handeln müsse, an die Philosophie anzuschließen versuchen. Selbst seriöse und renommierte akademische Philosophen haben sich dazu einspannen lassen, letztlich die allergrößten Verbrechen zu rechtfertigen oder zumindest zu verharmlosen. (Besonders unrühmlich zu nennen ist hier natürlich Martin Heidegger, der nach seiner Rektoratsrede 1933 das Horst-Wessel-Lied absingen ließ; es ist sicher kein Zufall, dass sich der rechte russische Denker Dugin positiv auf ihn bezieht.)

Was folgt nun aus der »Metaphysik«? Nach Kirills Predigt beispielsweise, dass die russische Armee deswegen in der Ukraine einmarschiert sei, weil der liberale Westen alle Welt dazu zwingen wolle, »Gay-Pride-Paraden« abzuhalten. Der »metaphysische Sinn« des Kriegs ist es, mit vieltausendfacher tödlicher Gewalt zu verdrängen, dass es Formen menschlichen Lebens gibt, die sich nicht einer Logik von Männlein, Weiblein, Vater-Mutter-Kind, Führung und Gefolgschaft, Volk und Heimatboden unterwerfen lassen.

Diese Art von Denken verherrlicht, konsequent zu Ende gedacht, letztlich immer das massenhafte Opfer für etwas völlig Abstraktes und Beliebiges. Ich stehe davor hilflos. Man kann als Philosoph damit eigentlich nicht inhaltlich umgehen. Die einzige Position, die ich für vertretbar halte, ist zu sagen: Das ist keine Philosophie – und wenn es doch Philosophie ist, dann will ich zumindest nichts mit ihr zu tun haben und alles gegen sie tun, was ich kann, denn sonst mache ich mich als Wissenschaftler mitschuldig.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieser Kolumne hieß es, Heidegger habe seine berüchtigte Rektoratsrede in SA-Uniform gehalten. Vermutlich trug er jedoch keine Uniform. Mit letzter Sicherheit lässt sich dies nicht entscheiden, da laut Mitteilung des Freiburger Universitätsarchivs kein Foto überliefert ist.

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