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Warkus‘ Welt: Freiheit oder Pflicht?

Der Ukrainekrieg hat der Debatte über eine allgemeine Dienstpflicht neuen Aufwind verliehen. Doch darf man soziales Engagement erzwingen? Zeit für eine philosophische Betrachtung.
Alte und junge Hände
Sich für andere zu engagieren – zum Beispiel in der Pflege von älteren Menschen – soll zur Charakterbildung beitragen und den Gemeinschaftssinn stärken. So lautet eines der häufigsten Argumente für die allgemeine Dienstpflicht.

Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 12. Juni 2022 in einem Interview eine »soziale Pflichtzeit« für alle jungen Deutschen vorschlug, war diese Idee längst nichts Neues mehr. Einer flüchtigen Recherche zufolge gab es mindestens 2000, 2002, 2003, 2004, 2005, 2009, 2010, 2011, 2012, 2013, 2015, 2016, 2018 und 2019 bereits ähnliche Vorschläge. Selbst 2022 war Steinmeier nicht einmal der Erste, der eine allgemeine Dienstpflicht ins Spiel brachte.

Rechtlich wäre eine solche Pflicht, die über den Rahmen der ausgesetzten Wehrpflicht hinausgeht, ohne Grundgesetzänderung kaum sicher zu realisieren, und ob und wann es dafür je eine Mehrheit geben wird, steht in den Sternen. Philosophisch kann man sich aber schon jetzt mit dem Thema auseinandersetzen. Denn eine Dienstpflicht wäre schließlich ein durchaus gravierender Eingriff in die individuelle Freiheit.

Die Bundesrepublik versteht sich trotz ihres unbestreitbaren preußisch-obrigkeitsstaatlichen Erbes als liberales Gemeinwesen. Während beispielsweise die DDR-Verfassung seit 1968 in Artikel 1 festhielt, der Staat sei eine »politische Organisation« unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei, betrachtet sich die Bundesrepublik in ihrer Verfassung eben nicht als hierarchische Formation, in die sich alle einzugliedern haben, sondern als Rahmen für die Entfaltung freier Individuen.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Artikel 2 des Grundgesetzes legt fest: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.« Der vordere Teil dieses Satzes könnte quasi direkt aus der Feder von John Stuart Mill stammen, dem wichtigsten Vertreter des klassischen Liberalismus in der Philosophie. Es liegt daher nahe, einmal zu überlegen, was er zu einer allgemeinen Dienstpflicht zu sagen hätte.

In seinem Hauptwerk »Über die Freiheit« hält Mill unmissverständlich fest, dass die Gesellschaft das Recht hat, ihre Angehörigen auf zweierlei zu verpflichten: zunächst, die Rechte anderer nicht zu verletzen; und: »Zweitens sollte jeder Einzelne seinen nach Billigkeit zu messenden Anteil an den Arbeiten und Opfern tragen, die nötig sind, um die Gesellschaft und ihre Glieder vor Unbill und Angriffen zu schützen.«

Soziale Gefühle darf man nicht erzwingen wollen

Der Schutz gegen Angriffe ist kodifiziert: Im Verteidigungsfall hat der deutsche Staat die Möglichkeit, Männer und notfalls – zu Sanitätsdiensten – Frauen zum Dienst zu verpflichten (Art. 12 GG). Interessant wird es beim Schutz vor »Unbill«. Mill befindet an anderer Stelle, in seinem zweiten Hauptwerk »Utilitarismus«, dass Sicherheit, also die Gewissheit, dass einem nicht jederzeit alles genommen werden kann, das fundamentalste menschliche Bedürfnis sei. Recht und Strafe seien unter anderem gerechtfertigt, um eben dies sicherzustellen. Hieraus scheint sich mir die Erhebung von Steuern, mit denen Justiz und Ordnungsbehörden finanziert werden, zu legitimieren, aber beispielsweise auch die in Deutschland sporadisch greifende Verpflichtung zum Dienst in der Feuerwehr oder zur Unterhaltung von Deichen.

Wie passt eine soziale Dienstpflicht für junge Menschen in dieses Konzept? Sie wird von denen, die sie propagieren, eher nicht damit begründet, dass sie notwendig sei, um Gefahren abzuwehren. Stattdessen soll es sozusagen um Charakterbildung (»Horizonterweiterung«) und um Stärkung des Gemeinschaftsgeistes (»gesellschaftlicher Zusammenhalt«) gehen.

John Stuart Mill ist ganz entschieden der Meinung, dass Altruismus, Engagement für andere, soziale Gefühle und sogar Aufopferung für die Gemeinschaft eine großartige Sache sind – man darf sie aber nicht erzwingen wollen. Es ist eine Sache des geistigen Fortschritts, sie über Generationen hinweg hervorzubringen und zu verstärken. Das funktioniert nach seiner Meinung am besten, wenn man Kindern und Jugendlichen eine gute Erziehung und Ausbildung sichert sowie Erwachsenen in ihrer Lebensführung, auch und gerade, wenn sie anderen exzentrisch erscheint, größte Individualität zugesteht (solange die Rechte anderer nicht verletzt werden).

Dass durch einen Pflichtdienst so etwas Edles wie eine Hilfstätigkeit von Laien in der Pflege oder im Katastrophenschutz unter den Verdacht kommt, jungen Menschen in Wahrheit aus wenig edlen Motiven aufgezwungen zu werden (beispielsweise, um teures Personal in Kliniken zu sparen), würde Mill vermutlich heftig ablehnen, da es den Fortschritt hin zu immer stärkeren moralischen Gefühlen für die Gesellschaft unterminiert. Große ehrenamtliche Organisationen, die es jedem ermöglichen, freiwillig altruistische Dienste zu leisten, und die auch daran arbeiten, das Gemeinschaftsgefühl junger Menschen zu stärken, aber ohne Zwang oder sonstigen sozialen Druck mitzumachen – das hätte er hingegen vermutlich gut gefunden. Und genau das, so kann man argumentieren, haben wir eigentlich heute schon.

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