Mäders Moralfragen: Die Fehlerkultur der Wissenschaft
Fehler zuzugeben ist schwer. Als Journalist kann ich ein Lied davon singen. Ich habe oft genug nach Gründen gesucht, einen Fehler nicht in einer eigenständigen Korrekturmeldung auszubessern: zu randständig, zu lange her, nur halb falsch. Ich vermute, dass ich nicht der Einzige war. Und natürlich macht man es sich auf diese Weise noch schwerer. Denn wenn Fehler nur selten ausdrücklich korrigiert werden, dann fallen Korrekturen besonders auf – und man sucht nach neuen Ausflüchten, um nicht der Einzige zu sein, der einen Fehler zugibt.
Dabei sind Fehler zu erwarten; nicht nur, weil das journalistische Geschäft hektischer geworden ist, sondern auch, weil der Markt so schwierig ist. Im Kampf um die Aufmerksamkeit versuchen Journalisten trotz der Eile die Welt zu erklären. Schon wenige Stunden nach einer Katastrophe spekulieren sie zum Beispiel darüber, wie es zu dem Unglück gekommen sein könnte, um die Sensationslust des Publikums zu befriedigen. Die niederländische Redaktion »De Correspondent« hat zwar direkt nach den Anschlägen von Paris und Brüssel auf eine eigene Berichterstattung verzichtet, weil sie niemanden vor Ort hatte. Doch solche Zurückhaltung wird wohl die Ausnahme bleiben.
In der Wissenschaft ist die Fehlerkultur im Grunde ähnlich schlecht, auch wenn die Probleme ganz andere Ursachen haben. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet der Fall des japanischen Mediziners Yoshihiro Sato, der im vergangenen Jahr gestorben ist. Sato war unglaublich produktiv: In den 15 Jahren zwischen 1997 und 2012 veröffentlichte er Berichte über 33 randomisierte, kontrollierte Experimente. An jeder Studie nahmen ungewöhnlich viele Probanden teil, auch wenn die Krankheit selten ist, und die Ergebnisse waren immer klar und deutlich. Satos wichtigste Forschungsfrage war, wie sich Knochenbrüche im Alter vermeiden lassen: Hilft zum Beispiel Vitamin D, schützen bestimmte Medikamente?
Der Kampf mit den Fachjournalen
Inzwischen haben die betroffenen Fachjournale oder Sato selbst 21 der 33 Studien zurückgezogen. Ein wichtiger Grund: Der Mediziner scheint – aus unbekannten Motiven – die Daten frei erfunden zu haben. Doch diese so genannten Retractions waren ein langer Kampf. Eine kleine Gruppe von Forschern aus England und Neuseeland hat sich jahrelang mit Satos Studien und den Herausgebern der Fachjournale herumgeschlagen. Ich habe Vorträge von Alison Avenell von der britischen University of Aberdeen und ihren Kollegen auf der Weltkonferenz für Forschungsintegrität in Amsterdam gehört. Der Kollege Kai Kupferschmidt hat nun für das Wissenschaftsmagazin »Science« den Fall genauer recherchiert und ist dafür sogar nach Japan gereist. Ein Rechtsanwalt hat ihm bestätigt, dass Sato Suizid begangen hat. Im Artikel von Kai Kupferschmidt finden sich zahlreiche Links auf Satos Studien und die Expertisen seiner Kritiker.
Zweifel an Satos Studien ergaben sich, als Forscher deren Statistik unter die Lupe nahmen. In randomisierten Experimenten wird ausgelost, welche Therapie die Teilnehmer erhalten, um anschließend die Wirkung vergleichen zu können. Durch das Losverfahren soll das Risiko reduziert werden, dass eine der Therapien einen Vorteil erhält: zum Beispiel, weil die damit behandelten Probanden weniger krank sind als die Teilnehmer aus den Vergleichsgruppen. Trotzdem kann es sein, dass sich die Gruppen im Mittel unterscheiden – dass die Probanden der Gruppe A beispielsweise im Durchschnitt älter oder gebrechlicher sind als die Teilnehmer der Gruppe B. Solche Unterschiede sind sogar zu erwarten, weil sich das Los nicht um paritätische Besetzung der Gruppen schert. Doch in Satos Studien ließen die statistischen Kennzahlen vermuten, dass die Gruppen nicht zufällig zusammengestellt wurden: Sie sind sich ähnlicher, als es der Zufall erlauben würde. Es gab sogar Gruppen mit exakt demselben Body-Mass-Index.
Bei medizinischen Experimenten geht es um viel. Alison Avenell und ihre Kollegen berichten, dass Satos Fälschungen zumindest eine Studie angeregt haben, die eigentlich überflüssig war. Die Initiatoren dieser Studie wollten einen Dissens zwischen Sato und seinen Fachkollegen aufklären. Allein diese Studie dürfte etwa 1,5 Millionen Euro gekostet haben, schätzen Satos Kritiker. Und es steht der Verdacht im Raum, dass so manche Patienten schon auf der Grundlage von Satos Studienergebnissen falsch behandelt worden sind. In der Wissenschaft vertraut man darauf, dass die Daten sachgerecht erhoben werden.
Korrigieren, aber richtig
Alison Avenell und ihre Kollegen haben über Jahre hinweg die Fachzeitschriften angeschrieben, in denen Sato seine Studien veröffentlicht hat. Sie haben in Stellungnahmen ihren Verdacht auf Fälschung begründet. Doch die Herausgeber winkten meistens ab. Die einen zögerten, die nötigen Konsequenzen zu ziehen, die anderen steckten den Kopf in den Sand. Und wenn sie die Studie zurückzogen, ließen sie das Problem kleiner erscheinen, als es ist – wie Avenell und ihre Kollegen vor einigen Wochen bei einem Fachjournal kritisierten (das Portal »Retraction Watch« berichtete). Die Ausdauer, mit der die Kritiker ihrer Sache treu blieben, ist bewundernswert, denn persönlich scheinen sie keinen Vorteil aus diesem Dienst an der Wahrheit zu ziehen.
So unterschiedlich die Fälle in der Wissenschaft und im Journalismus liegen, so ähnlich dürfte doch die Lösung aussehen: Man braucht verbindliche Standards zum Umgang mit Fehlern. Korrigieren oder nicht – und wenn ja, wie? Auf den ersten Blick mag die Sache klar sein, doch Korrekturen sind mitunter eine komplizierte Angelegenheit. Zunächst einmal muss man die Schwere des Fehlers einordnen. Für Rechtschreibfehler wird man zum Beispiel keine offizielle Korrektur fordern, aber wenn der Tippfehler in einem Namen oder einer Formel steckt, vermutlich schon. Und dann stellen sich praktische Fragen: Wie teilt man die Korrektur denjenigen mit, die die fehlerhafte Version schon gelesen haben? Auch zurückgezogene Studien werden manchmal weiter in Fachartikeln zitiert. Und wie handhabt man Diskussionen, die zum Beispiel entstehen, wenn der beschuldigte Autor Erklärungen vorbringt, die ihm seine Kritiker nicht abnehmen?
Über solche Fragen müssen sich die zuständigen Redakteure und Herausgeber Gedanken machen – im Journalismus wie in der Wissenschaft. Doch die Kriterien, nach denen sie entscheiden, sollten nicht in ihrer Hand liegen. In der jeweiligen Branche sollte ein Konsens darüber angestrebt werden, was als schwer wiegender und damit korrekturbedürftiger Fehler angesehen wird und in welcher Form er ausgebessert werden muss. Das würde die möglichen Ausflüchte der Redakteure und Herausgeber deutlich einschränken.
Die Moral von der Geschichte: Ohne allgemein gültige Regeln fällt es Menschen noch schwerer als ohnehin schon, Fehler zuzugeben.
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