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Warkus' Welt: Die goldene Regel und der kategorische Imperativ

Die Aussage »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu« und der kategorische Imperativ führen zwar oft zum selben Ergebnis. Es gibt aber Unterschiede.
Engel und Teufel

»Ach, Kant! So ein bisschen ›Was du nicht willst, dass man dir tu‹ und der Rest ist Geschwätz, das kriegt doch jeder noch selber hin.« Diesen Satz musste ich mir vor rund 15 Jahren sinngemäß von einem flüchtigen Bekannten anhören, weil ich Philosophie studierte. Sein Kommentar ist mir jetzt erst wieder eingefallen, verdient aber vielleicht eine nähere Betrachtung.

Der weniger bemerkenswerte Teil der Behauptung ist sicherlich der zweite. Die Vorstellung, dass Philosophie keine spezialisierte wissenschaftliche Beschäftigung rechtfertigt, weil eigentlich »jeder Mensch ein Philosoph ist«, ist alt und beliebt. Dabei erscheint es doch merkwürdig, zu erwarten, dass jeder Mensch ohne Vorkenntnisse selbst philosophieren können soll, wenn er denken kann und damit präsent hat, worum es in der Philosophie geht. Schließlich erwarten wir ja auch nicht, dass jeder Mensch, der Füße hat, deswegen ohne Vorkenntnisse selbst Schuhe anfertigen kann. (Dieses Beispiel stammt übrigens von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831).)

Interessanter ist der erste Teil der Bemerkung. Dass die Regel »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu« mit Philosophie in Verbindung gebracht wird, ist erst einmal verständlich. Rein vom alltäglichen Zugang her könnte es daran liegen, dass sie im Ethik- und Religionsunterricht in der Schule besprochen wird. Sie ist eine (nämlich die negative) Fassung der so genannten »goldenen Regel«, die man ebenso positiv fassen kann (zum Beispiel: »Tue anderen, wie du willst, dass dir selbst getan werde«). In den entsprechenden Unterrichtseinheiten tauchen, zumindest in der Oberstufe, immer auch philosophische Texte auf, und da es in Deutschland keinen verpflichtenden Philosophieunterricht gibt, ist es nicht selten, dass dies eine von wenigen Berührungen mit Philosophie im Leben bleibt.

Seit 2500 Jahren überliefert

Nur: Woher kommt die inhaltliche Vorstellung, die goldene Regel sei irgendwie der Kern der Philosophie? Zuerst setzt dies voraus, Philosophie sei dasselbe wie Ethik (also die Lehre vom wünschenswerten Handeln), was vielleicht wirklich mit Unterrichtsinhalten an der Schule zu tun hat. Und dann wird die goldene Regel als Kern der Ethik betrachtet – das ist vielleicht verständlich, weil sie in der einen oder anderen Form seit mindestens gut 2500 Jahren in den Überlieferungen einer großen Zahl verschiedener Kulturen auftaucht.

Und natürlich hat es irgendwie mit Kant zu tun. Etwas, was viele stark mit Schulunterricht, Philosophie und der goldenen Regel assoziieren, ist Immanuel Kants (1724-1804) kategorischer Imperativ. Als Jürgen von der Lippe seinerzeit auf der Bühne dessen bekannteste Formulierung rezitierte (»Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«), musste er als ehemaliger Lehramtsstudent nur viel sagend auf die Ellbogenflicken seines Jacketts zeigen, um Gelächter zu ernten.

Kants berühmteste philosophische Innovation hat die Form eines Prüfverfahrens für Handlungsregeln (Maximen), wie die goldene Regel auch. Beim kategorischen Imperativ soll die ethische Eignung einer Regel danach beurteilt werden, ob sie sich verallgemeinern lässt; bei der goldenen Regel danach, ob man sich wünschen würde, so behandelt zu werden. Oft liefert eine solche Betrachtung ähnliche Ergebnisse – die Regel »Töte niemals« wird durch beide Verfahren gleich beurteilt. Es gibt aber ebenso Unterschiede: Die Regel »Lass deine Kinder einen Beruf erlernen, der dir selbst gefallen würde« leitet sich zwar von der goldenen Regel ab; es sollte jedoch einigermaßen klar sein, dass sie sich nicht verallgemeinern lässt und dem kategorischen Imperativ nicht genügt.

Ich hoffe, ich konnte Sie, bei aller gebotenen Kürze, davon überzeugen, dass mein damaliger Bekannter eine vielleicht auf gewisse Weise naheliegende, aber dennoch von vorne bis hinten falsche Meinung geäußert hat. Und selbst wenn Sie noch nicht überzeugt sind: Wenn Sie jetzt gerade intensiv darüber nachdenken, ob er nicht doch irgendwie Recht hatte, dann beschäftigen Sie sich immerhin mit Philosophie, und das freut mich sowieso.

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