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Warkus' Welt: Die Kunst des Wohnens

Nimmt man manche Begriffe wörtlich, können sie einen schnell in die Irre führen. Doch sie liefern auch den ein oder anderen philosophischen Denkanstoß.
Auf der Couch beim Psychoanalytiker

Haben Sie schon einmal versucht, ein Weilchen nur zu wohnen? Von Max Goldt stammt das Zitat: »Ich würde gern mal versuchen, eine Minute lang nur zu wohnen, das wäre eine wunderbare Meditation. Wohn, wohn, wohn.«

Aber geht das überhaupt? Wohnt man (sofern man eine Wohnung hat) nicht immer? Rein alltagssprachlich wohnt man ja auch, wo man eben wohnt, wenn man sich gerade nicht dort aufhält. »Ich wohne in Jena« kann ich sagen, wenn ich gerade in Madrid bin. Es gibt viele Ausdrücke, die ähnlich funktionieren: Im Zug sagen wir »Hier sitzt jemand« im Grunde ausschließlich über Plätze, auf denen gerade niemand sitzt. Wir wollen damit sagen, dass eine Beziehung zwischen einem anderen Menschen und dem betreffenden Platz herrscht, die darin besteht, dass dieser Mensch sich für die Dauer seiner Fahrt an diesem Platz aufhält, wenn er nicht gerade etwas anderes tut. »Er wohnt in der Torgasse 4« sagt entsprechend aus: Es gibt eine Beziehung zwischen dieser Adresse und ihm, die darin besteht, dass er sich in der Regel in einem Gebäude an dieser Adresse aufhält. Die Formulierung mag sich, wie Goldt bemerkt, danach anhören, als sei »wohnen« eine aktive Tätigkeit, aber das ist eben nur eine sprachliche Eigenart. »Ich wohne jetzt« ist ohne weitere Ergänzung ein sinnloser Satz.

Nicht nur bei Verben kommt es gelegentlich vor, dass die Verwendung eines Worts, wenn man es tatsächlich wörtlich nimmt, etwas Irreführendes implizieren kann. Wenn ich etwa sage »Das Licht in Freds Zimmer ist gelb«, könnte sich das so anhören, als ob ich von einem handhabbaren Gegenstand spreche, der eben eine gelbe Farbe hat. Es gibt aber keinen gelben Gegenstand, den »das Licht in Freds Zimmer« bezeichnet, sondern eine Beziehung zwischen der Beschaffenheit der Wände und Einrichtungsgegenstände und der Art des Lichts, das die Lampen in Freds Zimmer abstrahlen.

Philosophie und Sprache

Die Philosophie begann im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine intensive Auseinandersetzung mit Sprache, die bis heute nicht abgeschlossen ist; sie brachte die philosophische Strömung hervor, die man gemeinhin analytisch nennt. Damals betrachtete man solche grammatikalischen Möglichkeiten sehr skeptisch. Substantive, die keine Gegenstände bezeichnen! Verben, die keine Geschehnisse bezeichnen! Ein Skandal! Und am allerschlimmsten ist es, wenn man bestimmte philosophische Texte liest. Zum Beispiel solche, in denen das Substantiv »Nichts« vorkommt. Was ist dieses Nichts denn? Doch wohl kein Gegenstand! Und über »das Nichts« kann man doch wohl keine sinnvollen Sätze bilden, die man nicht auch anders und weniger irreführend formulieren könnte. Ein wichtiger früher analytischer Philosoph, Rudolf Carnap (1891–1970), macht dies 1931 zum Kern seines Aufsatzes »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«. Zu seiner Zeit war auch die Idee beliebt, die Philosophie könne im Zusammenspiel mit der Logik und den Naturwissenschaften eine ganz neue Sprache (eine »Idealsprache«) entwickeln, die alle grammatikalischen Fallstricke und Mehrdeutigkeiten vermeidet. Man könnte zum Beispiel versuchen, die Sprache auf Aussagen zu reduzieren, in denen gesagt wird, welche Eigenschaften etwas hat oder nicht hat. Damit ersparen wir uns zwar ein Nachdenken über Wohnen als Tätigkeit, wir kaufen uns aber andere Probleme ein.

Interessanterweise gibt es aber auch Überlegungen, die genau bei den fragwürdigen Wörtern angreifen und sie produktiv machen. Ich weiß nicht, ob Max Goldt darüber informiert ist, aber in der Philosophie stellt man sich durchaus ernsthaft die Frage, was Wohnen eigentlich ist. Im Denken des deutsch-amerikanischen Architekturphilosophen Karsten Harries etwa spielt die Frage nach dem »wirklichen Wohnen« eine große Rolle. Vereinfacht gesagt ist es für ihn das, was sich abspielt, wenn Menschen sich in Gebäuden aufhalten, die dem Ort, an dem sie stehen, Bedeutung verleihen und ihnen auf zwanglose Weise helfen, ihr Leben sinnvoll zu organisieren. Interessanterweise wurde Harries dabei unter anderem stark von einem Text von Martin Heidegger (1889–1976) namens »Bauen Wohnen Denken« aus dem Jahr 1951 inspiriert – und genau Heideggers Reden über das Nichts ist das, was Carnap in seinem berühmten Aufsatz als Musterbeispiel von bedeutungslosem metaphysischem Geschwafel angeprangert hat.

Sprache kann in der Philosophie viele Rollen spielen – und je nachdem, welche Sprachauffassung man hat, können scheinbar irreführende oder bedeutungslose Wörter ein Ärgernis oder ein Denkanstoß sein.

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