Freistetters Formelwelt: Die Mathematik der lautlosen Apokalypse
Wenn etwas kippt, müssen die Folgen nicht dramatisch sein. Ein umgefallenes Glas auf dem Tisch macht vielleicht Flecken auf dem Tischtuch, aber im Allgemeinen nicht viel Ärger. Im Klimasystem der Erde kann ein Kippen aber sehr viel weiter reichende Folgen haben. Als Kippelement bezeichnet man einen klimarelevanten Teil der Erde, der durch kleine äußere Einflüsse in einen grundlegend anderen Zustand übergehen kann. Ist so ein Element einmal gekippt, lässt sich der ursprüngliche Zustand nur sehr schwer oder gar nicht wiederherstellen.
Ein Beispiel dafür wäre das Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds. Noch ist das Eis auf der arktischen Insel bis zu drei Kilometer hoch. Je wärmer es wird, desto mehr schmilzt es. Je näher man dem Meeresspiegel kommt, desto wärmer ist jedoch die Lufttemperatur. Es kann also ein Rückkopplungsprozess einsetzen, der das Eis ab einem gewissen Punkt unaufhaltsam schmelzen lässt. Und wenn das Eis erst einmal verschwunden ist, dauert es Jahrzehntausende, bis es sich in der ursprünglichen Dicke wieder bilden kann (sofern das auf einer erwärmten Erde überhaupt passiert).
Die mathematische Disziplin, die sich mit Veränderungen dieser Art beschäftigt, ist die Bifurkationstheorie. Wenn ein nicht lineares dynamisches System seinen Zustand qualitativ ändert, spricht man von einer Bifurkation beziehungsweise Verzweigung. Wenn es ums Klima geht, gibt es mehrere Möglichkeiten, wie diese Zustandsänderung ablaufen kann, was sich mit dieser Formel darstellen lässt:
Sie beschreibt ein schon 1979 aufgestelltes, stark vereinfachtes Klimamodellsystem. T gibt die durchschnittliche globale Oberflächentemperatur des Ozeans an, c ist die Wärmekapazität des Wassers und mit R↓ und R↑ werden die auftreffende Sonnenstrahlung und die von der Erde abgegebene Strahlung beschrieben. Das Modell ist simpel – und natürlich zu einfach, um das reale Klima der Erde zu untersuchen. Damit lassen sich aber gewisse Konzepte erforschen; zum Beispiel die verschiedenen Arten der Kippelemente.
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Man unterscheidet bei den Kipppunkten zwischen dem B-, N- und R-Typ. Das B steht für Bifurkation und bezeichnet das, was man sich üblicherweise unter Kipppunkten im Klimasystem vorstellt: Ein kritischer Parameter wird überschritten und das, was zuvor ein stabiler Zustand war, ist auf einmal keiner mehr. Beim N-Typ steht das N für »noise«: Es handelt sich um Systeme, die allein durch ihre zufälligen internen Variationen kippen können. Das R im dritten Typ steht für »rate-induced«; diese Art von Kippen findet statt, wenn eine Veränderung in der Umwelt schneller stattfindet, als das System sich selbst »korrigieren« kann. Tatsächlich können im simplen Modellsystem alle drei Typen auftreten.
Einige Elemente sind wohl schon gekippt
Das Klima der Erde hat also – leider – viele Möglichkeiten zu kippen. Und jede Menge Kippelemente: neben dem Grönlandeis zum Beispiel das Eis der Antarktis oder die Permafrostböden. Aber auch die Korallenriffe sind ein Kippelement: Wenn sie absterben, dann kommen sie so schnell nicht wieder. Zu dieser Kategorie zählen ebenso Regenwälder wie der Amazonas, die von einer CO2-Senke zu einer CO2-Quelle werden könnten.
Ende 2023 wurde der »Global Tipping Point Report« veröffentlicht, der 26 Kippelemente identifiziert hat. Drei davon (das Grönlandeis, der Amazonas und die atlantische Umwälzströmung) könnten kurz vor dem Kippen stehen oder schon gekippt sein. Bei den Warmwasserkorallen haben wir den Kipppunkt vermutlich schon erreicht; und wenn die Erderwärmung auf mehr als zwei Grad ansteigt, werden noch mehr Elemente kippen. Es braucht keine Mathematik, um die Dringlichkeit zu erkennen, etwas gegen diese Bedrohung zu unternehmen.
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