Star-Bugs – die Kleine-Tiere-Kolumne: Die Schilf-Glasflügelzikade bedroht Zuckerrüben und Kartoffeln

Von »gefährdet« zu »invasiv« in wenigen Jahren: Die Schilf-Glasflügelzikade (Pentastiridius leporinus) hat eine außergewöhnliche Karriere hingelegt. Lange Zeit kannten sie bestenfalls ein paar Taxonomie-Experten. Man wusste lediglich, dass die Zikadenart an Schilfrohr vorkommt. Ende der 2000er Jahre jedoch ist das heimische Insekt vom Ufer auf den Acker umgezogen – und hat sich zum Leidwesen der Bauern die Zuckerrübe als neue Wirtspflanze gesucht. »Inzwischen hat sich die Schilf-Glasflügelzikade massiv ausgebreitet«, sagt Jürgen Gross. Der Entomologe leitet das Julius Kühn-Institut für Pflanzenschutz im Obst- und Weinbau in Dossenheim (JKI), eine nachgeordnete Behörde des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL), und lehrt biotechnischen Pflanzenschutz an der Hochschule Geisenheim.
Die Schilf-Glasflügelzikade ist ein ziemlich unscheinbares, kleines Tier. Sie ist bräunlich beige mit den typischen großen Zikadenaugen an beiden Seiten ihres konischen Kopfes. Ihre durchscheinenden Flügel ragen über den Hinterleib hinaus. Die Weibchen werden bis zu neun Millimeter lang. Die Männchen bleiben etwas kleiner. Im August legen die Weibchen ihre Eier im Boden ab, woraus dann die Larven schlüpfen.
Doch das eigentliche Problem ist nicht das Insekt selbst: Die Schilf-Glasflügelzikade überträgt zwei Erreger von Pflanzenkrankheiten: Candidatus Arsenophonus phytopathogenicus löst bei Zuckerrüben das Syndrome Basses Richesses (SBR) aus: Die Rüben produzieren weniger Zucker und bekommen die Konsistenz von Gummi. Das erschwert die Ernte, und die Rüben schimmeln schneller. Außerdem überträgt die Zikade das Bakterium Candidatus Phytoplasma solani, den Erreger der Stolbur-Krankheit.
SBR trat zum ersten Mal in den 1990er Jahren im Burgund in Frankreich auf. Die Landwirte stellten den Zuckerrübenanbau in der Region daraufhin innerhalb weniger Jahre ein. Die Zuckerfabriken schlossen und mit ihnen verschwand auch die Pflanzenkrankheit. Erst im Jahr 2008 tauchte sie wieder auf, im Raum Heilbronn und damit in Deutschland.
Die Stolbur-Krankheit trifft vor allem Kartoffeln. »Wir kennen sie aus Südosteuropa schon seit den 1950er Jahren«, sagt Gross. Anders als bei den Rüben steigt in den Knollen der Zuckergehalt. Beim Frittieren färben sich die Kartoffeln deshalb braun. Das mache die Ernte im Prinzip wertlos, sagt Gross: »Fleckige Chips und braune Pommes sind nicht vermarktbar.« Grundsätzlich könnten die »Gummikartoffeln« aber bedenkenlos verzehrt werden, teilt das BMEL auf Anfrage mit.
Zikade ist noch nicht satt
Inzwischen sind in Deutschland bereits 85 000 Hektar Zuckerrüben-Anbaufläche in allen Bundesländern außer Schleswig-Holstein befallen. Am stärksten betroffen sind Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Bei der Kartoffel waren im Jahr 2024 Äcker von insgesamt 22 000 Hektar infiziert. In Hessen wird der Anbau von Saatkartoffeln in diesem Jahr voraussichtlich eingestellt.
Wie die Zikade es von Küsten- und Sumpfgebieten auf den Acker geschafft hat, darüber gibt es bislang nur Spekulationen
Wie die Zikade es von Küsten- und Sumpfgebieten auf den Acker geschafft hat, darüber gibt es bislang nur Spekulationen. Ausgerechnet die Bakterien, die die Zikade auf die Pflanzen überträgt, könnten ihr dabei geholfen haben, vermutet Entomologe Gross. Denn die beiden Erreger sind mit Darmbakterien verwandt. Von diesen so genannten Endosymbionten ist bekannt, dass sie Insekten dabei unterstützen, für sie sonst schlecht verträgliche Stoffe zu verdauen. »Wir vermuten, dass die Zikaden dadurch Inhaltsstoffe der neuen Wirtspflanzen besser tolerieren können als zuvor«, sagt Gross.
Und die Zikade ist offensichtlich noch nicht satt. Sie hat weitere Wirtspflanzen für sich entdeckt: Zwiebel, Möhre und Rote Bete.
Verbände und Ministerien zeigen sich besorgt
»Die Schilf-Glasflügelzikade ist die größte pflanzenbauliche Herausforderung, der wir uns in den nächsten Jahren stellen müssen«, zitiert der Branchenverband Wirtschaftliche Vereinigung Zucker (WVZ) seinen Vorsitzenden Stefan Streng in einer Pressemitteilung. Und warnt: »Ohne eine langfristige Eindämmung ist die Versorgung mit heimischen Lebensmitteln gefährdet.«
»Die Glasflügelzikade ist eine ernste Bedrohung für unsere Landwirtschaft und für gute Ernten«Cem Özdemir, Landwirtschaftsminister
Auch der geschäftsführende Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir (Grüne), äußert sich in einer Mitteilung besorgt: »Die Glasflügelzikade ist eine ernste Bedrohung für unsere Landwirtschaft und für gute Ernten.« Welche wirtschaftlichen Folgen konkret zu erwarten sind, gab das Ministerium allerdings nicht bekannt.
Die Schilf-Glasflügelzikade zu bekämpfen, ist schwierig. Das Hauptproblem: Ihre Nymphen leben im Boden. Sie übertragen die Erreger, wenn sie an den Wurzeln der Feldfrüchte saugen. Nach der Ernte bleiben die Jungtiere im Ackerboden. Die Landwirtinnen und Landwirte helfen ihnen unfreiwillig beim Überwintern, denn sie säen nach der Rübenernte oft Winterweizen. Die jungen Weizenpflanzen dringen mit ihren Wurzeln bis zum Winteranfang einen halben Meter tief in die Erde ein. Dort können die Zikadennymphen der Kälte ausweichen, an den Weizenwurzeln saugen und sich zu adulten Tieren entwickeln.
Wenn es im Frühjahr wärmer wird, kriechen sie in die oberste Bodenschicht. Nach der letzten Häutung kommen die Insekten wieder an die Oberfläche und paaren sich. »Im Frühsommer fliegen sie aus den Weizenfeldern in nahe gelegene Zuckerrüben- oder Kartoffelfelder«, beschreibt Jürgen Gross den letzten Schritt – und der Zyklus beginnt von Neuem.
Mit kalten Wintern kommen die Zikaden als heimische Insekten also gut zurecht. Doch auch sie profitieren vom Klimawandel. Lange Zeit bildeten sie lediglich eine Generation pro Jahr. Wenn die Sommer aber wärmer werden, wachsen die Tiere schneller. Dann kann es passieren, dass die Zikaden sogar zwei Generationen hervorbringen, sich also viel stärker vermehren. Es gebe Anzeichen dafür, dass das im Jahr 2022 bereits einmal vorgekommen ist, erklärt der Biologe. Auch Trockenheit helfe den Zikaden: »Ist der Boden trocken und rissig, bekommen die Zikaden viel Luft, und die Eiablage ist einfacher.«
Insektizide, Vibrationen und der Pflug sollen helfen
Wirksame Insektizide fehlten bislang, sagt Gross, das Problem mit den Zikaden sei noch zu jung. Ein Gift muss für den Einsatz gegen jedes einzelne Insekt zugelassen werden. Das dauert. Anfang April 2025 hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit für eine Reihe von Substanzen eine Notfallzulassung für die Nutzung im Zuckerrübenanbau erteilt. »Für den Übergang ist das vernünftig, damit die Bauern nicht ihre Existenzgrundlage verlieren«, sagt der Forscher. Allerdings sei ein Tier, das unterirdisch an Wurzeln saugt, nur schwer mit Insektiziden zu bekämpfen. »Man muss die adulten Zikaden beim Einfliegen erwischen.«
Wegen dieser Probleme läuft die Suche nach alternativen Bekämpfungsmethoden auf Hochtouren. Ein Ansatz: die Kommunikation der Zikaden unterbinden. Sie verständigen sich über Vibrationen. Ein Forschungsprojekt am Julius Kühn-Institut untersucht, wie man diese Gesänge und damit die Paarung stören könne, sagt Gross. Eine andere Möglichkeit ist, die Fruchtfolge zu verändern, also statt Winterweizen eine Pflanze zu säen, an der die Nymphen sterben. Oder man müsse den Acker dann pflügen, wenn die Zikaden in den obersten Schichten aktiv sind.
Saatguthersteller versuchten deshalb, resistente Rüben und Kartoffeln zu entwickeln. Kerstin Krüger leitet beim Pflanzenzüchtungsunternehmen KWS in Einbeck die Pflanzenpathologie. Sie untersucht die vorhandenen Sorten, aber auch Wildarten: »Wir schauen, welche Pflanzen viel versprechende genetische Variationen oder Resistenzen zeigen«, sagt sie. Die können dann in existierende Sorten eingekreuzt werden.
Außerdem habe ihr Unternehmen eine Zikadenzucht aufgebaut, um Versuche mit den Tieren machen zu können. Monitoringprogramme sollen weitere Einblicke in die Verbreitung und die Aktivität der Zikade und der Erreger bringen. Die Bakterien zu erforschen, wird dadurch erschwert, dass sie sich bislang nicht im Labor kultivieren lassen.
Weil es leicht bis zu zehn Jahre dauern könne, neue, resistente Gemüsesorten auf herkömmliche Weise zu züchten, plädiert Jürgen Gross dafür, Gentechnik auch in der Pflanzenzucht zuzulassen. Biotechnologische Methoden erlaubten es viel schneller, die erwünschten Gene von einer Rübensorte in eine andere zu kopieren. »Gerade wenn wir auf neue Schadorganismen reagieren wollen, müssen wir dazu schnell in der Lage sein«, sagt er. Auf jeden Fall schneller als die Rote Liste der bedrohten Arten: Dort wird die Schilf-Glasflügelzikade noch immer als »bedroht« aufgeführt.
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