Die fabelhafte Welt der Mathematik: Als die Simpsons die Masse des Higgs-Bosons vorhersagten

Es ist der 20. September 1998: Auf tausenden Bildschirmen von Röhrenfernsehern erscheint kurzzeitig eine Formel, der die meisten Menschen vermutlich nicht viel Beachtung schenken. Sie alle verfolgen viel gespannter, was der Antiheld der beliebten Zeichentrickserie dieses Mal wieder Verrücktes tut. Doch 14 Jahre später wird die unscheinbare Gleichung, die nur wenige Sekunden in einer Szene zu sehen war, für Schlagzeilen sorgen: Nämlich dann, als die europäische Organisation für Kernforschung, das CERN, der Welt ihre bislang größte Entdeckung vorstellt.
Fans von »Die Simpsons« werden wissen: Hinter der Kultserie verbirgt sich mehr als nur lockere Witze. Die Serie steckt voller Gesellschaftskritik, intelligentem Humor – und tatsächlich finden aufmerksame Zuschauer auch immer wieder wissenschaftliche Anspielungen (mit diesen konnte der Physiker und Autor Simon Singh sogar ein ganzes Buch füllen). Eine wahre Schatztruhe bietet dabei die Folge »Im Schatten des Genies«, bei der Homer Simpson dem berühmten Erfinder Thomas Edison nacheifert. Falls Sie die Simpsons kennen, werden Sie den Ausgang der Folge erahnen: Es geht alles furchtbar schief.
Als besonders spannend für Nerds erweist sich eine bestimmte Szene: Homer steht nachdenklich mit Hornbrille vor einer Tafel. Neben den obligatorischen Donuts, die nicht nur seine Leibspeise sind, sondern im Bereich der Topologie eine wichtige Rolle spielen, finden sich zwei Gleichungen. Über die eine habe ich bereits eine Kolumne verfasst: Sie spielt auf den großen Satz von Fermat an und präsentiert ein vermeintliches Gegenbeispiel. Das hat unter Mathe-Fans für viel Spaß gesorgt. Doch auch die zweite Formel hat es in sich:
Denn sie zeigt nichts Geringeres als eine Vorhersage für den Wert der Masse des berüchtigten Higgs-Bosons – und zwar Jahre bevor das Teilchen am größten Teilchenbeschleuniger der Welt nachgewiesen wurde. Das erregte viel Aufmerksamkeit, denn die physikalischen Modelle sagten keinen genauen Wert für die Higgs-Masse voraus. Wie also konnten ihn die Autoren der Serie bestimmen? Verfügten Sie über geheimes Wissen? Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sich Szenarien aus den Simpsons bewahrheiteten.
Der Higgs-Krimi
Bevor wir in die Hintergründe des Higgs-Mechanismus abtauchen, möchte ich eines klarstellen: Die Simpsons-Autoren lagen mit ihrer Vorhersage zwar in der richtigen Größenordnung, aber die gemessene Higgs-Masse erwies sich als ungefähr sechsmal kleiner. So ausgedrückt klingt es schon wesentlich unspektakulärer, oder? Trotzdem verbirgt sich dahinter eine schöne Geschichte. Schon allein die Vorhersage des Higgs-Teilchens gleicht einem Krimi. Zugegeben: keinem, den man jetzt auf Netflix finden würde, aber einem echt nerdigen mit vielen technischen Details. Doch keine Angst, ich versuche diese so weit herunterzubrechen, dass daraus auch für diejenigen, die komplizierte Physik vielleicht abschreckt, kein Horrorfilm wird.
Jeder gute Krimi beginnt mit einem Rätsel. So auch hier: In den 1950er und 1960er Jahren steckten Physikerinnen und Physiker in der Klemme. Sie hatten ein neues Grundgerüst für die Teilchenphysik gefunden, die sogenannte Quantenfeldtheorie. Demnach gibt es auf der Welt keinen leeren Raum. Stattdessen ist er von Feldern durchzogen. Diese kann man sich wie eine Wasseroberfläche vorstellen, die unablässig vor sich hin wabert. Die kleinen Kräuselungen und Wellen entsprechen dabei den uns bekannten Teilchen.
Quantenfeldtheorie
Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die Quantenmechanik – und revolutionierte die Vorstellung von Materie. Plötzlich war ein Elektron nicht mehr bloß ein punktförmiges Teilchen; vielmehr besaß es in manchen Situationen Eigenschaften, die eigentlich lediglich Wellen innehaben. In den folgenden Jahren verallgemeinerten die Fachleute die quantenphysikalischen Konzepte, indem sie den Formalismus nicht nur auf die Mechanik, sondern auch auf den Elektromagnetismus und die Kernkräfte übertrugen.
Das führt jedoch schnell zu Problemen: So kann etwa die Quantenmechanik an sich nur Systeme mit einer festen Teilchenzahl beschreiben, die sich nicht ändert. Im Fall des Elektrons und seines Antiteilchens, des Positrons, trifft das aber beispielsweise nicht zu. Sie löschen sich gegenseitig aus. Für solche Systeme braucht es daher eine allgemeinere Theorie.
Und so entwickelte sich die Quantenphysik weiter. In den 1950er und 1960er Jahren setzten sich sogenannte Quantenfeldtheorien immer mehr durch. In diesen ist die Raumzeit niemals leer, sondern von verschiedenen Feldern durchzogen. Schwingungen darin entsprechen Teilchen oder Antiteilchen. Doch die Quantenfelder sind niemals ruhig: Sie sind der Theorie zufolge stets von kleinen Kräuselungen durchzogen, die extrem kurzlebigen Teilchen entsprechen. Die »virtuellen« Teilchen lassen sich nicht direkt detektieren – ihre Auswirkungen allerdings konnten bereits nachgewiesen werden.
Mit diesem neuen Grundgerüst konnten Fachleute den Elektromagnetismus und die starke Kernkraft wunderbar beschreiben. Und auch die schwache Kernkraft, die für radioaktive Zerfälle verantwortlich ist, schien zunächst in diesen Rahmen zu passen. Bei genauerem Hinsehen gab es aber Probleme: Die Teilchen, welche die schwache Kernkraft übermitteln sollten – die W+-, W-- und Z-Bosonen – müssten eine Masse besitzen. Nur so lässt sich erklären, warum die schwache Kernkraft bloß eine endliche Reichweite hat und nicht wie die elektromagnetische Kraft auch auf großer Skala bemerkbar ist.
»Na und?«, mag man sich vielleicht denken. »Addiert man halt einen Masseterm zu den Gleichungen und fertig.« (Zumindest dachte ich das, als ich zum ersten Mal während des Studiums davon hörte.) Allerdings ist es – wie so oft in der Wissenschaft – nicht ganz so einfach. In Quantenfeldtheorien führen massebehaftete Kraftteilchen zu schwerwiegenden Problemen. Unter anderem bedingen sie unendliche Ergebnisse. Die übrigen Kraftteilchen der Teilchenphysik, also Photonen (Überträgerteilchen der Elektrodynamik) und Gluonen (die der starken Kernkraft), haben keine Masse.
Das Standardmodell der Teilchenphysik
Das Standardmodell enthält alle bisher bekannten Elementarteilchen. Links oben sind die sechs Quarks Up (u), Down (d), Charm (c), Strange (s), Top (t) und Bottom oder auch Beauty (b) verzeichnet. Sie können jeweils drei verschiedene Farbladungen besitzen (Rot, Grün oder Blau). Diese Ladung bestimmt, wie sie an Gluonen (g) koppeln, die selbst zwei Farbladungen tragen. Neben der durch die Gluonen vermittelten starken Kernkraft unterliegen die Quarks der schwachen Kernkraft und dem Elektromagnetismus. Ihre elektrische Ladung beträgt entweder 2/3 oder –1/3 der Elektronenladung. Die Masse der sechs Quarks variiert stark, vom leichtesten Up-Quark mit 2,2 MeV/c2 bis zum schweren Top-Quark mit über 170 GeV/c2.
Außerdem gibt es sechs verschiedene Leptonen: das Elektron (e), das Myon (μ), das Tauon oder Tau (τ) und für jedes dieser Teilchen ein dazugehöriges Neutrino (ν). Sie unterliegen alle der schwachen Wechselwirkung, und bis auf die drei Neutrinos haben sie eine negative Elektronenladung. Wie bei den Quarks schwankt auch ihre Masse: von 511 keV/c2 des leichten Elektrons bis zu mehr als 1,7 GeV/c2 des schweren Tauons. Die Masse der Neutrinos ist tatsächlich so klein, dass sie bisher noch nicht bestimmt werden konnte.
Quarks und Leptonen bilden zusammen drei Teilchenfamilien, die sich bis auf ihre Massen nicht voneinander unterscheiden. Sie wirken damit wie drei praktisch identische Kopien; diese Symmetrie lässt sich durch die Gruppentheorie beschreiben.
Neben den Gluonen befinden sich in der rechten Spalte die übrigen Teilchen, welche die drei Grundkräfte des Standardmodells übermitteln. Das W+-, das W–- und das Z-Boson sind für die schwache Kernkraft verantwortlich, die radioaktive Zerfälle bewirkt. Das Photon übermittelt die elektromagnetische Kraft. Für die vierte Grundkraft, die Gravitation, wird vermutet, dass ein Graviton existiert. Das Higgs-Boson unterscheidet sich von seinen Artgenossen. Es hängt nicht mit einer fundamentalen Kraft zusammen, sondern verleiht den Teilchen ihre Masse. Außerdem unterliegt es der schwachen Wechselwirkung.
Um das Standardmodell zu vervollständigen, kommen noch die Antiteilchen der Quarks und der Leptonen hinzu, die sich lediglich durch das Vorzeichen ihrer elektrischen Ladung von den ursprünglichen Partikeln unterscheiden.
Die physikalischen Modelle schienen also zusammenzubrechen, wenn man massebehaftete Kraftteilchen einführen wollte. Aber ohne Masse ließ sich die schwache Kernkraft nicht beschreiben. Das war das Problem, vor dem die Physik-Community zu Beginn des Krimis stand. Dessen Hauptprotagonisten, die großen Namen der Teilchenphysik, hatten keine Lösung dafür. Es gab zwar Vorschläge und Ansätze, die erforderten aber zahlreiche neue Teilchen und brachten wiederum eigene Schwierigkeiten mit sich.
Und dann gibt es, wie in jeder guten Geschichte, einen zunächst unscheinbaren Protagonisten, der eine Wendung herbeiführt. Im Jahr 1964 veröffentlichte Peter Higgs eine spekulative Arbeit, in der er einen Mechanismus vorstellte, der das Problem der schwachen Kernkraft aus dem Weg räumen könnte – ohne viel Schnickschnack. Zunächst wurde seine Veröffentlichung von der Fachwelt belächelt.
Es dauerte drei weitere Jahre, bis die Physiker Sheldon Glashow, Abdus Salam und Steven Weinberg merkten, dass sich Higgs' Ansatz perfekt in die Teilchenphysik einbetten lässt, wenn man zuvor den Elektromagnetismus mit der schwachen Kernkraft verbindet. Sieht man zwischen diesen beiden Kräften einen gemeinsamen Ursprung, dann bietet der von Higgs beschriebene Mechanismus eine Erklärung für die drei massereichen Kraftteilchen der schwachen Kernkraft.
Der Higgs-Mechanismus rettet das Standardmodell
Die genauen Details sind ziemlich technisch, aber im Grunde lautet die Idee folgendermaßen: Higgs postuliert ein zusätzliches Quantenfeld, das inzwischen nach ihm benannte Higgs-Feld. Dessen Anregungen entsprechen vier verschiedenen Teilchen, einem massebehafteten und drei masselosen. Das Geniale daran ist, dass man die drei masselosen Teilchen mit den Kraftteilchen der schwachen Kernkraft koppeln kann, wodurch letztere eine Masse erhalten. Man kann sich vorstellen, dass die W+-, W-- und Z-Bosonen die masselosen Teilchen des Higgs-Felds »fressen« und dadurch massiv werden.
Dieser »Higgs-Mechanismus« löst die wichtigsten Probleme. Durch ihn lässt sich eine Quantenfeldtheorie mit massetragenden Kraftteilchen konstruieren. Doch Krimi-Fans werden erkennen: Bislang sind das nur Indizien. Der Mechanismus schien alles zu erklären, aber ein stichhaltiger Beweis fehlte. Um sicherzustellen, dass Higgs richtiglag, mussten Fachleute die vorhergesagte vierte, massebehaftete Anregung des Higgs-Felds nachweisen. Das ist das berüchtigte Higgs-Boson.
Um danach zu suchen, bräuchte man einen Teilchenbeschleuniger, so viel war klar. Das Standardmodell der Teilchenphysik gab auch einige Eigenschaften des hypothetischen Teilchens vor, etwa seine elektrische Ladung oder seinen Spin. Doch eines ließ die Theorie offen: die Masse des Higgs-Bosons.
Im Jahr 2012 erhielt der Nerd-Krimi schließlich sein letztes Kapitel, in dem das CERN den Nachweis des Higgs-Bosons bekanntgab. Das Teilchen wurde mit einer Masse von rund 125 Gigaelektronenvolt gemessen. Und hier kommen nun die Simpsons ins Spiel. Setzt man die Zahlenwerte in die Gleichung aus der Kultserie ein, kommt man auf den Wert von circa 775 Gigaelektronenvolt.
Im Standardmodell der Teilchenphysik geht die Masse des Higgs-Bosons als freier Parameter ein. Das heißt, sie kann nur durch Messungen präzise ermittelt werden. Unter diesen Umständen ist es natürlich höchst erstaunlich, wenn irgendeine fiktionale Serie einen Wert vorhersagt, der in der gleichen Größenordnung liegt. Insofern: Chapeau, liebe Autoren der »Simpsons«!
Allerdings muss man auch erwähnen, dass die Physik-Community nicht völlig im Dunkeln tappte. Sie hatte durch vorherige Messungen grobe Anhaltspunkte, in welchem Bereich sich die Masse des Higgs-Bosons bewegen müsste. Davon wussten höchstwahrscheinlich auch die Drehbuchautoren der Simpsons, von denen einige Physiker sind. Sie entwickelten daraufhin eine griffige Formel, die einige physikalische Naturkonstanten enthält wie (die Stärke der elektromagnetischen Kraft), das plancksche Wirkungsquantum h, die Gravitationskonstante G und die Lichtgeschwindigkeit c.
Die Formel hat sogar die passende Einheit. Doch auch wenn die Gleichung schön anmutet, ergibt sie aus physikalischer Sicht keinen Sinn. Aber die Formel lässt sich anpassen, um deutlich näher am gemessenen Wert des Higgs-Bosons zu liegen: Hierfür muss man nur durch ersetzen. Vielleicht macht sich das ja in Zukunft ein Drehbuchautor zunutze.
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