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Lobes Digitalfabrik: Die smarte grüne Diktatur

Ist die Techno-Autokratie die Zukunft des Klimaschutzes? Angesichts des Klimawandels werden Stimmen nach einem radikalen Durchgreifen lauter.
Manche Plakate scannen ihre Betrachter

Hochwasser in Venedig, Buschbrände in Australien, Rekordtemperaturen in der Arktis: Die Folgen des Klimawandels sind nicht nur dramatisch, sondern auch schon jetzt sichtbar. Während die einen eine moralisch aufgeladene Verzichtsethik predigen – weniger Konsum, weniger Fleisch, weniger fliegen, weniger Kinder –, fordern andere eine noch radikalere Lösung: eine Ökodiktatur. Freilich nennen die Befürworter das nicht so, aber der Begriff bringt es auf den Punkt. Die Demokratie, so das Argument, sei als politisches System nicht geeignet, den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen und eine ökologische Transformation der Wirtschaft einzuleiten. Um die Welt zu retten, bräuchte es daher ein autoritäres System, das den Menschen ökologisch korrekte Anweisungen erteilt.

Der bekannte Umweltwissenschaftler James Lovelock, Erfinder der Gaia-Hypothese, laut der die Erde ein sich selbst regulierender lebender Organismus ist, sagte bereits 2010 in einem Gespräch mit dem »Guardian«, dass der Mensch auf Grund seiner Trägheit ein so komplexes System wie das Klima nicht beherrschen könne. »Ich habe das Gefühl, dass der Klimawandel ein so gravierendes Thema wie der Krieg ist. Es könnte notwendig sein, die Demokratie für eine Weile auszusetzen.« Brauchen wir also ein Kriegsrecht für den Klimawandel? Eine »Demokratiepause« zur Weltrettung?

Das Schreckgespenst Ökodiktatur geistert schon länger durch die Theoriedebatten als eine Art Notstandsregime, das Naturrechte im Namen eines höherrangigen Ziels (der Natur selbst!) außer Kraft setzt. Nach dem Motto: lieber die Freiheit als den Planeten opfern! Der US-amerikanische Politikwissenschaftler William Ophuls schrieb bereits 1973, dass der Mensch angesichts der Klimakatastrophe die Wahl zwischen Leviathan oder Oblivion, also zwischen einem absolutistischen Herrscher oder der Auslöschung des Planeten hätte – was freilich keine Wahl ist. Doch unter dem Sachzwang des puren Überlebens gerät Freiheit zur Sekundärtugend.

Notstandsregime

In der Politik ist die ökologisch motivierte Tugendwächterei längst angekommen. So verhängt der Stadtstaat Singapur drakonische Strafen für das Wegwerfen von Zigarettenstummeln oder Kaugummis. Wer dabei erwischt wird, eine Kippe auf die Straße zu werfen, zahlt eine Strafe von mitunter 400 Euro. Dank des Strafkatalogs ist Singapur heute eine der saubersten Städte Asiens. Überquellende Mülleimer? Plastikmüll in Grüngebieten? Fehlanzeige.

Das Bemerkenswerte daran ist, dass die Disziplinarmaßnahmen mit digitalen Technologien verschaltet werden können. So hat die chinesische Metropole Schanghai im Juli 2019 ein digitales Mülltrennungssystem eingeführt, das die Bürger bei der Abfallentsorgung überwacht. Um die mit Kameras und Sensoren ausgestatteten Mülltonnen zu benutzen, muss sich der Bürger zunächst mit einer Karte registrieren. Nachdem er den Abfall oben eingeworfen hat, wird dieser von einem KI-gestützten Scanner analysiert. Das System erkennt mit Hilfe von Objekterkennungsalgorithmen, ob zum Beispiel eine Plastikflasche im Papiermüll landet. Wer seinen Müll korrekt sortiert und trennt, bekommt Punkte gutgeschrieben. Wer dagegen schlampig ist, bekommt Besuch vom Nachbarschaftskomitee, berichtet die »South China Morning Post«. Big Brother schaut auch beim Abfall zu.

China wird im Jahr 2020 ein Sozialkreditsystem einführen, bei dem Bürger nach ihrem Verhalten bewertet werden. Wer Blut spendet oder die Regierung in sozialen Medien lobt, bekommt Punkte gutschrieben. Wer Cheats bei Online-Spielen verwendet oder seine Eltern in Pflege nicht besucht, bekommt Punkte abgezogen. An den Punktestand sind wiederum Leistungen und Zugänge gekoppelt, zum Beispiel der Kauf von Flugtickets. Im Rahmen des Testbetriebs wurden bereits 1400 Hundebesitzer mit Bußgeldern beziehungsweise Punktabzügen bestraft, weil sie den Hundekot auf dem Gehweg nicht entfernt haben.

Den Überwachungskameras – bis 2020 sollen es Schätzungen zufolge 626 Millionen an der Zahl sein – bleibt nichts verborgen: wer Müll auf die Straße wirft, wer seinen Motor an der Ampel laufen lässt, wer auf dem Balkon grillt. Das System genießt in China hohe Zustimmung, weil es Transparenz und Gerechtigkeit verspricht. Vor den Augen der Überwachungskamera ist jeder gleich.

Egalitäre Überwachung

Die computergestützte Diktatur ließe sich weiter ausbauen. Jeder Bürger könnte vom Staat ein fixes CO2-Kontingent zugewiesen bekommen und per App alarmiert werden, wenn dieses überschritten wird: »Achtung, mit der Buchung des Flugs überschreitest du dein CO2-Budget!« Klimaschutz und Kontrolltechnologien könnten auf neue Art verschaltet werden.

Der australische Politikwissenschaftler Mark Beeson prägte den Begriff des »ökologischen Autoritarismus« (environmental authoritarianism): Das Beispiel Chinas könne vor allem in solchen Regionen Schule machen, die stark vom Klimawandel betroffen sind, zum Beispiel Indien oder Südostasien. Indiens Premierminister Narendra Modi will angesichts der Umweltkrise in seinem Land – die Luftverschmutzung in der Hauptstadt Delhi senkt die Lebenserwartung der Bewohner um durchschnittlich zehn Jahre – 100 smarte Städte aus dem Boden stampfen. Die Smart City geht von der Annahme aus, die Umwelt sei zu komplex, als dass sie vom Menschen reguliert werden könne. Daher müsse das Management an Maschinen delegiert werden.

Smart-City-Konzepte, die von Technologiekonzernen wie Intel oder Cisco als ökologisch, grün und effizient beworben werden, sind Politikmodelle, bei denen Klimaschutz gegen individuelle Freiheit eingetauscht wird. Denn damit die automatisierten Entsorgungs- oder Verkehrssysteme funktionieren, müssen die Bewohner in der Stadtmaschine lückenlos überwacht werden. In der Smart City, die die Google-Städtebau-Tochter Sidewalk Labs in Toronto errichten will, sollen zahlreiche Sensoren installiert werden, die alle möglichen Daten sammeln: vom Lärm in Wohnungen bis hin zur Geschwindigkeit, mit der Fußgänger über die Straße gehen. Sidewalk Toronto soll die »messbarste Gemeinde der Welt« werden.

Noch hat der Bürger die Wahl, ob er sich freiwillig in ein solches Freiluftgefängnis begibt. Doch mit jedem Grad Erderwärmung scheint die brutale Entscheidung zwischen dem demokratischen Weltuntergang und der autokratischen Weltrettung unausweichlicher. Kippt das Klima, könnte auch die Demokratie kippen.

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