Freistetters Formelwelt: Die unmögliche Trompete
Das 17. Jahrhundert war eine Zeit der wissenschaftlichen Revolutionen. Galileo Galilei richtete als erster Mensch ein Teleskop auf den Himmel. Johannes Kepler erklärte die Bewegung der Planeten. Isaac Newton schuf eine neue Physik. Und der italienische Physiker Evangelista Torricelli konstruierte eine völlig unmögliche Trompete.
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Es war kein echtes Musikinstrument, das Torricelli 1641 entdeckte. Es ging um Mathematik, und um die Frage, wie man eine rotierende Hyperbel beschreiben kann. Angenommen, man lässt die durch die Funktion y = 1 / x – für x größer oder gleich 1 – gebildete Kurve um die x-Achse rotieren. Welches Volumen hat der entstehende Körper dann? In moderner Form berechnet sich das so:
Das Volumen ist also nicht unendlich groß; berechnet man dagegen die Oberfläche, die der Rotationskörper besitzt, ist das sehr wohl der Fall. Torricelli kam also zu einem sehr paradoxen Ergebnis. Die Form, die er da gerade entdeckt hatte, sah aus wie eine lang gestreckte Trompete, deren dünnes Ende bis ins Unendliche reicht und dabei immer dünner wird. Und obwohl dieses Objekt unendlich lang ist und eine unendlich große Oberfläche hat, ist sein Volumen endlich.
Das verwirrte damals nicht nur ihn, auch die restlichen Wissenschaftler konnten das nicht so wirklich glauben. Man zweifelte an der Aussagekraft der Mathematik; man ging davon aus, dass irgendwas hier, wenn schon nicht falsch, dann zumindest höchst seltsam sein muss. Das Objekt, das die Bezeichnung »Torricellis Trompete« (oft auch »Gabriels Horn«) trägt, verwirrt die Menschen aber bis heute.
Malen nach – unendlichen – Zahlen
Vor allem in einer anderen Form, dem »Painter’s Paradox«: Offensichtlich bräuchte man unendlich viel Farbe, um die unendlich große Innenfläche der Trompete zu bemalen. Man kann das endliche Volumen des Körpers aber natürlich mit einer endlichen Menge an Farbe füllen – womit gleichzeitig ja auch die Innenfläche angemalt sein sollte.
Zu Torricellis Zeiten fing man gerade erst an zu verstehen, wie man mit der Unendlichkeit mathematisch umgehen muss. Newton und Leibnitz waren gerade erst dabei, die Grundlagen der modernen Infinitesmalrechnung zu schaffen. Heute lernt man die Techniken der Integral- und Differentialrechnungen schon in der Schule und kann Objekte wie Torricellis Trompete mathematisch sauber beschreiben. Die Probleme mit der Vorstellung bleiben aber bestehen.
Chanakya Wijeratne und Rina Zazkis von der kanadischen Simon Fraser University haben die Sache 2015 untersucht (»On Painter’s Paradox: Contextual and Mathematical Approaches to Infinity«) und eine Gruppe von Studierenden sowohl mit der korrekten Mathematik der Trompete als auch mit dem Paradox konfrontiert. In einer Reihe von Interviews hat man ihre Reaktion analysiert.
Vielen ging es so wie den Gelehrten des 17. Jahrhunderts: Sie waren nicht bereit, an die seltsamen Eigenschaften des Körpers zu glauben. Viele versuchten, das Paradox durch einen Bezug auf die reale Welt zu lösen: Um eine unendliche Fläche zu bemalen, würde man auch unendlich viel Zeit benötigen, weswegen die Sache nicht möglich sei. Oder man würde in der immer dünner werdenden Trompete irgendwann vor dem Problem stehen, einzelne Atome bemalen zu müssen.
In diesen Antworten liegt die Ursache der Probleme. Die Unendlichkeit befindet sich außerhalb unserer Vorstellungskraft, und wenn wir sie anhand realer Objekte verstehen wollen, müssen wir scheitern. Man kann eine unendliche Fläche im Prinzip durchaus mit endlich viel »mathematischer« Farbe bemalen: Die Farbschicht muss nur ausreichend schnell immer dünner werden – was echte Farbe aber nicht kann.
Zum Glück ließen sich die Mathematiker des 17. Jahrhunderts von diesem Paradox nicht allzu sehr entmutigen. Und schufen mit der Infinitesimalrechnung ein Instrument, das weit über das hinausgeht, was wir uns konkret vorstellen können.
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