Vorsicht, Denkfalle!: Wir Möchtegern-Versteher

»Wenn du weißt, dass du nichts weißt, weißt du im Grunde schon eine ganze Menge.« Dieser Satz hat mich, als ich acht oder neun Jahre alt war, bis ins Mark erschüttert. Damals war ich ein Riesenfan der Comicserie »Es war einmal … der Mensch« und hörte die Hörspielfassung auf meinen Musikkassetten rauf und runter.
Weshalb mich kleinen Steppke dieser Satz damals so schockierte? Na, weil er offenkundig wahr und doch so völlig überraschend ist. Mir machte er schlagartig klar: Tatsache – wir verstehen, wenn man's genau nimmt, so gut wie nichts, schweben aber zeitlebens auf der Wolke unseres vermeintlichen Auskenner- und Checkertums.
Gesprochen wird der Satz in der Sendung übrigens von einem flauschigen Wesen mit weißem Fell, das damit die Weisheit des Philosophen Sokrates kindgerecht vorführt. Wir befinden uns also in der griechischen Antike. Zweieinhalbtausend Jahre später hat sich nichts Grundlegendes an unserer Lage geändert, außer dass es seit damals noch zig Millionen weitere Dinge auf der Welt gibt, die wir im Detail genauso wenig durchschauen wie alles davor.
So sprechen auch Berge von Arbeiten aus kognitionspsychologischen Laboren dafür, dass die meisten Menschen sogar simple technische, ökonomische, mathematische oder wissenschaftliche Zusammenhänge nicht erklären können – obwohl sie selbst der Meinung sind, alles gut zu durchschauen. Der kanadische Psychologe Steven Sloman und sein US-Kollege Philip Fernbach machten das Phänomen als »Wissensillusion« bekannt.
- Der fundamentale Attributionsfehler
- Die Normalitätsverzerrung
- Der Rückschaufehler
- Der Halo-Effekt
- Das Gesetz der kleinen Zahl
- Der Namensinitial- und der Geburtsdatumseffekt
- Der Mere-Exposure-Effekt
- Die Wissensillusion
Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber rein statistisch ist es extrem wahrscheinlich, dass auch Sie sich diesem Irrtum hingeben. Oder können Sie mir erklären – und zwar ohne eine KI zu Rate zu ziehen –, wie ein Reißverschluss funktioniert? Oder eine Klospülung? Ihr Handy? Das Internet? Das globale Finanzsystem? Wieso selbst die dicksten Hummeln fliegen und Ameisen ein Vielfaches ihres Eigengewichts stemmen können?
Klar, ganz oberflächlich sind Sie im Bilde: Beim Reißverschluss verhaken sich zwei Leisten kleiner Plastik- oder Metallbügelchen derart ineinander, dass … Bei einer Spülung wird Wasser derart durch ein Rohr gedrückt, dass … Aber genau das Derart, der entscheidende Mechanismus dahinter, ist Ihnen, wie mir, ein Buch mit sieben Siegeln. Es sei denn, Sie sind von Beruf Schneider oder Klempner oder haben sich privat näher mit dem betreffenden Gegenstand befasst.
Die psychologischen Vorteile der Ahnungslosigkeit
Für alle anderen gilt: Trösten Sie sich, Sie sind nicht allein! Die meisten Menschen halten sich für kompetenter, als sie sind. Dies hat zum Teil damit zu tun, dass wir unsere wahre Kompetenz im Alltag kaum beweisen müssen – wir brauchen nichts zu verstehen, nur halbwegs gut damit umzugehen (und ansonsten klug daherzureden). Vor allem aber ist es hilfreich, gefühlt mehr zu wissen, als de facto der Fall ist. Es macht uns resilient und glücklich, uns selbst moderat zu überschätzen, solange wir im Zweifelsfall unauffällig das Wissen der anderen – vulgo des Internets – anzapfen können.
Was mich zu einem weiteren zentralen Satz meiner Kindheit bringt: »Du musst nicht alles wissen, du musst nur wissen, wen du fragen kannst.« Urheber dieser Sentenz war kein flauschiger Comic-Sokrates, sondern Herr Schiewe. Und wenn mir schon unser Grundschullehrer einen Freibrief ausstellte, dann, dachte ich, tschüss Hausaufgaben, ich geh erst mal auf den Bolzplatz! Und höre später noch ein bisschen »Es war einmal … der Mensch«.
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