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Grams' Sprechstunde: Die Wohlfühl-Mythen der Impfkritik

Die Grippesaison steht vor der Tür. Wie jedes Jahr hat sie wieder allerlei Geraune der erklärten Impfgegner im Schlepptau.
Impfung

Es ist wieder Grippezeit. Und wie jedes Jahr haben nicht nur die Viren, sondern auch die Mythen rund um die Grippeimpfung Hochsaison: »Ich lass mich nicht impfen, davon wird man doch erst recht krank«, »Der Grippe-Impfstoff letztes Jahr, der war ja so schlecht, da wurde doch absichtlich gepfuscht« oder »Da gab's grad wieder einen Riesenskandal, besser, man lässt die Finger von allem, was Big Pharma uns aus Profitgier andrehen will«. So hört man es überall, vom Kindergarten bis zum ärztlichen Wartezimmer.

Bei solchen Sätzen möchte ich manchmal schreien. Dann erinnere ich mich daran, dass ich früher Ähnliches geglaubt habe – ich wusste es einfach nicht besser –, und das sogar mit »gutem Gefühl«. Schließlich ist es ja so viel stimmungsvoller, Mythen anzuhängen; Fakten und Hintergründe versteht man dagegen erst nach mühsamer Kleinarbeit.

Doch ebendarum soll es heute gehen. Wie ist das genau mit der Grippe und der Impfung dagegen? Zunächst: Krankheitserreger machen es uns schwer. Sie haben sich im Lauf von etwa einer Milliarde Jahren eine Menge Tricks angeeignet, um zu verhindern, dass sie vom menschlichen Immunsystem schon an der Tür abgewiesen oder später massakriert werden. Das Influenza-Virus, das klassische Virus der »echten Grippe« (die man übrigens keinesfalls mit einem »grippalen Infekt« verwechseln darf), ist vielleicht der bekannteste dieser viralen Immunsystemexperten. Sein Trick ist eine sehr schnelle Entwicklung: Fast jedes Jahr verändert es sich durch Mutation und schlägt so den zuvor noch wirksamen Abwehrmechanismen im Körper ein Schnippchen. Wer nicht mutiert, verliert.

Was den Körper austrickst, ist auch für die Impfstoffentwicklung ein Problem. Sie muss deshalb vorausschauend erfolgen und mit statistischen Wahrscheinlichkeiten, Risikoabschätzungen und dem Blick in andere Länder operieren, in denen ein Grippeerreger der Saison früher als bei uns grassiert. Irgendwann muss man sich dann festlegen: Es gilt, für den neuen Impfstoff die richtige Kombination der Mutationstypen zu erwischen, die unsere kommende Grippezeit am wahrscheinlichsten dominieren dürften – und dabei gleichzeitig die bestmögliche, zugleich kostengünstige und vor allem rechtzeitig verfügbare Versorgung der ganzen Bevölkerung im Blick zu behalten.

Die »Trefferquote« schwankt naturgemäß: Mal erwischt man den schließlich auftretenden Virus der Saison mehr, mal weniger gut. Trotzdem ist es immer von Vorteil, sich impfen zu lassen: Unser Immunsystem steigert nach der Impfung oftmals auch bei geringen Differenzen zwischen dem erwarteten und dem auftretenden Virus seine Abwehrkraft gegen den Erreger in gewissem Maß, was zumindest zu milderen Krankheitsverläufen führen kann. Wer sich über die Jahre gegen Influenza impfen lässt, baut sich so eine Bibliothek vielseitig informierter Antikörper auf, die generell die Chancen des Körpers gegen mutierte Influenzaviren erhöht. Das passiert auch, wenn die Kombination an Impfviren nicht optimal zur tatsächlich zirkulierenden Influenza passt – wie es etwa im Jahr 2017 leider der Fall war. Die schnell mutierenden Viren und die Impfstoffentwicklung betreiben einen beständigen Hase-und-Igel-Wettlauf, der von außen leicht wie ein Lotteriespiel wirken kann. Stimmt aber nicht: Hier arbeiten Wissenschaftler unter den gegebenen Bedingungen so gut wie möglich.

Wenn etwas schiefgeht

Hier und da passieren allerdings – trotz mittlerweile außerordentlich strenger Kontrollen – doch Fehler. Manchmal auch mit weit reichenden Folgen, die dann wieder zu neuer Verunsicherung führen – und, klar, zu neuen Mythen. So ist letztens bekannt geworden, dass ein Impfstoff gegen die 2009 grassierende Schweinegrippe als Nebenwirkung eventuell Narkolepsie, die »Schlafkrankheit«, förderte. Offenbar waren sogar Daten zurückgehalten und Warnungen ignoriert worden. Der damals betroffene Impfstoff Pandemrix ist längst nicht mehr auf dem Markt – die Angst, die all die Nachrichten rund um seinen Einsatz ausgelöst haben, wirkt aber bis heute nach. Dabei ist durchaus noch nicht wirklich geklärt, ob der Impfstoff selbst mehr Fälle von Narkolepsie ausgelöst hatte, ob das Grippevirus selbst die Beschwerden verursachte oder ob nur eine latent vorhandene Neigung zur Narkolepsie dadurch verstärkt wurde. Auch gibt es durchaus die Vermutung, das Fieber selbst könnte ein Auslöser der Narkolepsie sein. Bei entsprechender genetischer Prädisposition wäre es dann egal, welche Erkrankung oder Impfung die Person bekommt. Mit solchen Unsicherheiten umzugehen, ist besonders für medizinische Laien schwer – und nicht wenige kompensieren Unsicherheit dann mit Mythenbildung.

Aber auch wenn 2009 echte Fehler gemacht wurden: Es wäre ein noch größerer Fehler, daraus falsche Annahmen abzuleiten wie die, Impfstoffe seien generell unwirksam, oder zu unterstellen, Impfstoffhersteller würden völlig unbeaufsichtigt ihr Unwesen treiben. Etwa bei der Beimengung von Hilfsstoffen wie dem oft verpönten »Aluminium« im Impfstoff. Fakt ist: Die Impfstoffhersteller machen mit Aluminiumhydroxid (nicht mit metallischem Aluminium!) Impfstoffe sicherer und wirkungsvoller. Denn der Zusatzstoff verbessert die Effektivität der Grippeimpfung mit abgetöteten Erregern oder Teilen davon – und sorgt so dafür, dass mit geringeren Mengen an Impfstoff und seltener geimpft werden kann. Tatsächlich gibt es dabei kaum besser untersuchte Stoffe als den Wirkverstärker Aluminiumhydroxid, der bereits seit vielen Jahrzehnten verwendet wird. Früher übrigens in weitaus höheren Dosen als heute.

So genannte Adjuvanzien wie Aluminiumhydroxid werden stetig weiterentwickelt, damit auch ältere, besonders gefährdete Menschen mit nicht mehr so aktivem Immunsystem besser geschützt werden können und man immer weniger Lebendimpfstoffe nutzen muss, die ein höheres Risiko in sich bergen. Mittlerweile wird auch deshalb nach anderen Wirkverstärkern gesucht, weil viele Menschen wegen der Mythen rund um die Aluminiumverbindungen impfskeptisch werden und die Impfraten deshalb sinken – nicht, weil das Aluminiumhydroxid nutzlos oder schädlich ist. Selbst das pharmakritische »arznei-telegramm« nahm jetzt übrigens zu Aluminiumverbindungen in Impfstoffen Stellung und sieht keine Gefahr.

Also: Die Menschen fürchten sich wegen eines Mythos! Ist das nicht verrückt, wie hier Emotionen und Fakten durcheinandergeraten – und zu welchen Auswirkungen das führt? Klar, es ist die Entscheidung jedes Einzelnen, ob er sich gegen Grippe impfen lässt. Doch was ist eine Entscheidung wert, die auf der Basis von Fehlinformationen, Ängsten und Mythen getroffen wurde? Eine Entscheidung, die überdies andere gefährdet, die nicht geimpft werden können? Sehen wir auch hier die Auswirkungen eines Zeitgeistes, der dazu neigt, Fakten »gefühlten Wahrheiten« unterzuordnen? Fakt ist übrigens, dass viele Menschen an der Grippe sterben.

Dagegen setzt die Impfgegner-Szene – die nach neueren Untersuchungen zu Verschwörungstheorien neigt – gezielte Verunsicherung. Big Pharma ist dort Feindbild Nummer eins, die angeblichen weiteren »Profiteure« des »Impfwesens« rangieren gleich danach. Mit dieser Sichtweise machen sie zwar nicht jedermann zum Hardcore-Impfgegner, untergraben aber massiv das nötige Vertrauen in der Bevölkerung und suggerieren, Nichtimpfen sei nicht einfach irgendeine Alternative, sondern eine sinnvolle. Dabei spielt ihnen wiederum in die Hände, dass – wie eingangs erwähnt – Mythen doch viel faszinierender für uns Menschen sind als trockene Fakten.

Zum Schluss ein Geständnis: Mich selbst hat erst eine durchgestandene Grippe (eine echte!) zu der Überzeugung gebracht, dass es sinnvoll ist, mich jedes Jahr impfen zu lassen. Auf dem Weg dieser Erfahrung von der Notwendigkeit des Impfens überzeugt zu werden, wünsche ich wirklich niemandem!

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