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North Sentinel Island: Die Zivilisation tötet fast jeden, an dessen Ufern sie landet

Bis 1998 wurden Andamanenstämme kontaktiert, jedes Mal mit verheerenden Folgen. Auch unsere Autorin war damals vor Ort. Nun erklärt sie, was für die Sentinelesen auf dem Spiel steht.
North Sentinel Island aus der Luft

Aus den »Fängen des Satans« hoffte John Allen Chau die Einwohner der kleinen Insel im Golf von Bengalen zu retten. Doch als der 26-jährige Missionar am 17. November 2018 auf North Sentinel Island anlandete, brachten ihn die Einheimischen um. Es war ein vorhersehbarer Tod. Die Sentinelesen – das letzte Volk, das in Asien in freiwilliger Isolation lebt – töten fast jeden, der bei ihnen an Land kommt.

Mit ihrer Strategie halten sie nicht nur Fremde auf Abstand, sondern auch die Krankheiten und den sozialen Verfall, von denen andere Stämme des Andamanen-Archipels heimgesucht wurden. Dass die indischen Behörden nun Anstalten machen, Chaus Leiche zurückzuholen – unter Verletzung seines ausdrücklichen Wunsches – droht eine Kaskade von Ereignissen auszulösen, die das Überleben der Menschen auf dieser Insel erheblich gefährdet.

Es grenzt an ein Wunder, dass die Gemeinschaft der Sentinelesen überhaupt noch in dieser Form existiert. Genetische Studien der kontaktierten Andamanenstämme zeigen, dass sie wie Papuaner und australische Aborigines von modernen Menschen abstammen, die Afrika vor etwa 60 000 Jahren verließen. Auf ihrer Reise nach Osten entlang der indischen Küsten erreichten diese Wanderer schließlich die Andamaneninseln. Einige ließen sich nieder, andere wanderten weiter nach Süden. Interessanterweise stammen zwei bis drei Prozent der Gene der Andamaner von einer noch nicht identifizierten archaischen Menschengruppe. Davon abgesehen scheinen sie jedoch weitgehend genetisch isoliert geblieben zu sein. Ihre Sprachen bilden die eigene Familie der Andamanischen Sprachen, die nach Meinung der Linguistin Anvita Abbi in zwei weitere Gruppen unterteilt werden sollte, in Groß-Andamanisch und Ang.

Seit jeher fürchten Seeleute die Andamanen-Insulaner. Es war bekannt, dass jeder getötet wird, der an ihren Ufern Schiffbruch erleidet. 1858 kamen dann britische Beamte, deren Gewehren die Inselbewohner nur Pfeil und Bogen entgegenzusetzen hatten, und gründeten eine Strafkolonie auf South Andaman Island, die heutige Stadt Port Blair. Um die ihnen feindlich gesinnten Einheimischen zu befrieden, hielten sie einige von ihnen in so genannten Andamanen-Häusern fest. Dort wurden sie mit Alkohol und anderen Verlockungen konfrontiert, um bei ihnen »künstliche Bedürfnisse« zu schaffen, wie ein Beamter sagte. Denn zur Befriedigung dieser Bedürfnisse würden die Andamaner auf friedlichen »Verkehr mit einer höheren Rasse« angewiesen sein. Wachen in den Häusern vergewaltigten andamanische Frauen und brachten so Syphilis in eine Bevölkerung, die nach Jahrtausenden der Isolation keine Immunität gegen die Keime der Fremden hatte. Epidemien wüteten unter den Groß-Andamanern. Die zehn Stämme der Süd-, Nord- und Mittleren Andamaneninseln zählten ursprünglich 5000 bis 8000 Menschen. In den 1960er Jahren waren nur noch 19 übrig. Der Archipel gehörte zu diesem Zeitpunkt zum indischen Staat, der die Überlebenden auf einem Inselchen namens Strait Island ansiedelte.

Heute leben nur noch rund 50 Groß-Andamaner

Ihre Nachfahren zählen heute etwa 50 Individuen überwiegend gemischter Abkunft. Die Älteren unter ihnen sprechen eine Mischung aus den zehn Originalsprachen, die Jugendlichen beherrschen die Sprachen nicht mehr. Die meisten Männer trinken. Im Jahr 2014 unterhielt ich mich mit Nau, einer groß-andamanischen Frau, die ich in den 1990er Jahren zum ersten Mal getroffen hatte. Sie sprach von der verzweifelten Einsamkeit, eine Sprache zu sprechen, Lieder zu singen und mit Erinnerungen zu leben, die sie mit so gut wie niemandem teilen konnte. Die glücklichste Zeit in ihrem Leben, sagte sie, war, als sie als Kind mit ihrer Familie durch den Dschungel streifte. »Ich liebte es. Wir lebten frei«, erinnerte sie sich und beschrieb den Überfluss des Waldes und die schiere Freude, in ihm zu leben.

Angehörige von Jäger-und-Sammler-Völkern leiden sehr häufig unter Depressionen, wenn man ihnen ihr Land wegnimmt und sie zwingt, in festen Wohnsitzen zu leben. Auch die Onge von den Kleinen Andamanen, deren Zahl ebenfalls von ursprünglich vielleicht 1000 Individuen auf derzeit etwa 100 schrumpfte, sind von Alkoholismus und Depressionen geplagt. Im Jahr 2008 starben acht Männer und Jungen der Onge an einer Flüssigkeit, die sie für Alkohol hielten. In Wirklichkeit handelte es sich um Brennspiritus.

Die letzten, die der Zivilisation unterlagen, waren die Jarawa. Sie leben in dichten Wäldern am westlichen Rand der Südlichen und Mittleren Andamaneninsel. Bis 1998 verteidigten sie ihr Territorium mit ihrem Leben, sie töteten Siedler, die sich auf ihr Gebiet begaben, um zu fischen oder Wild zu jagen, und wurden im Gegenzug dafür getötet. Bereits Ende des 19. Jahrunderts begann der Kolonialverwalter Maurice Vidal Portman mit ihrer Befriedung. Über Jahrzehnte betrieben die Behörden seinen Versuch weiter. Kurz vor der Jahrtausendwende hatten sie Erfolg. Bootsladungen indischer Beamter und Anthropologen an den Stränden von Jarawa hinterließen Geschenke in Form von Bananen, rotem Tuch und anderer Annehmlichkeiten der Zivilisation. Dann zogen sie sich zurück. Irgendwann gaben die Jarawa nach. Sie legten ihre Waffen nieder, traten mit den Siedlern friedlichen Kontakt und wurden praktisch auf der Stelle von Lungenentzündung, Mumps, Masern und anderen Krankheiten überrollt; selbst eine normale Erkältung scheint für sie tödlich gewesen zu sein. Niemand weiß, wie viele gestorben sind.

Die Epidemien wurden schließlich unter Kontrolle gebracht. Heute zählen die Jarawa etwa 450 Mitglieder. Sie nennen sich selbst Ang, was »Mensch« bedeutet. Sie sind sprachlich, kulturell und genetisch den Onge und wahrscheinlich auch den Sentinelesen näher als den Groß-Andamanern. Auf Satellitenbildern kann man erkennen, dass das Jarawa-Reservat den letzten ungestörten immergrünen Regenwald der Großen Andamanen enthält – überall sonst finden sich Siedlungen, Reisfelder oder geschädigte Wälder. Der Reichtum an Tieren in ihrem Gebiet zieht Wilderer an. Einige von ihnen versuchen, junge Jarawa-Männer mit Alkohol gefügig zu machen, damit sie ihnen Schlammkrabben fangen. Auf dem internationalen Markt bringen die Tiere viel Geld ein. Schleichender Alkoholismus und sexuelle Ausbeutung durch Fremde sind verbreitete Probleme, und hinter all dem lauert das Gespenst von HIV oder anderen übertragbaren Krankheiten.

In den großen Visionen der Planen scheinen die Ureinwohner des Andamanen-Archipels nur mehr als Exponate in einem Freiluftzoo Platz zu finden

Die Bewohner der Sentinel-Inseln sind bisher einem ähnlichen Schicksal entgangen, nachdem die Kontaktversuche in den 1990er Jahren eingestellt wurden. Beamte und Anthropologen hatten sich angesichts der Kette tödlicher Ereignisse bei den Jarawa mehr Zurückhaltung auferlegt. Die nur 60 Quadratkilometer große Hauptinsel kann wahrscheinlich nicht mehr als 100 Menschen ernähren. Dass die Bewohner des Andamanen-Archipels über Zehntausende von Jahren auf derart kleinen Inseln überleben konnten, zeigt im Übrigen, dass eine freiwillige Isolation nicht schaden muss. Zudem muss ihre Lebensweise perfekt an die lokale Ökologie angepasst sein. Das botanische Wissen der Andamaner ist in der Tat phänomenal. Zum Beispiel erntet ein Onge-Mann Honig, indem er ein bestimmtes Blatt zerkleinert, die Paste auf seinem Körper schmiert und kaut. Wenn er dann auf einen Bienenstock bläst, fliegen die Bienen weg und geben ihren Honig preis. Von Zeit zu Zeit verkünden indische Wissenschaftler »Entdeckungen«, für die sie das Wissen der Einheimischen ausbeuten: hier eine mögliche Heilung von Malaria, da eine neue Bananenart. Auch heißt es, dass der schwere Tsunami von 2004 keinem Andamaner das Leben gekostet habe. Die Einheimischen sollen die Bewegungen des Erdbodens gespürt und sich dann ins höher gelegene Landesinnere begeben haben, bevor die Wellen eintrafen.

Darüber hinaus befolgten die Onge und Jarawa Tabus, etwa was die Jagd auf Wildschweine in der Paarungszeit angeht. So konnten sie ihr erstaunlich reiches Ökosystem am Leben erhalten. Die Andamaner scheinen auch das Bevölkerungswachstum auf null gesenkt zu haben, wahrscheinlich durch die Verwendung natürlicher Verhütungsmittel oder vielleicht sogar durch biologische Anpassungen wie späte Menstruation und frühe Menopause, die bei den Onge beobachtet wurden.

Tourismus für die Andamanen?

Seit Jahrzehnten bemühen sich Mitglieder der Zivilgesellschaft, einschließlich mir selbst, dafür zu sorgen, dass die Integrität der verbleibenden Jarawa- und Onge-Gebiete gewahrt bleibt und die Politik des Kontaktverzichts gegenüber den Sentinelesen fortgesetzt wird. Zu unserer Bestürzung ordnete das indische Innenministerium jedoch Ende Juni 2018 die Aufhebung entsprechender Beschränkungen für Ausländer an, die von Andamanenstämmen bewohnte Inseln, einschließlich North Sentinel, besuchen möchten. Das Ziel der Maßnahme sei, »den Tourismus und die allgemeine Entwicklung der Inseln zu fördern«.

Zudem blüht den Andamanen sowie den weiter südlich gelegenen Nikobaren der Bau einer Eisenbahnlinie quer durch das Jarawa-Reservat, viele neue Häfen, ein Containerterminal und riesige Marineanlagen. In den Augen des indischen Militärs, einem wichtigen US-Verbündeten, sind die Inseln »unsinkbare Flugzeugträger«, die bei einer zukünftigen Konfrontation mit China zum Einsatz kommen sollen. Die Ureinwohner des Andamanen-Archipels scheinen in diesen großen Visionen nur mehr als Exponate in einem Freiluftzoo Platz zu finden.

Die Bemühungen der Polizei, die offenbar am Strand vergrabene Leiche Chaus zurückzuholen, hat nun zu einer angespannten Lage vor Ort geführt. Die Gefahr, dass es zu weiteren Todesfällen kommt, ist groß. Oder – was auf lange Sicht noch schlimmer wäre – dass uns eine Wiederauflage der Versuche bevorsteht, mit den Sentinelesen in »freundschaftlichen Kontakt« zu treten.

Auch ich selbst näherte mich 1998 mit einem Boot der Insel und entdeckte aus der Ferne ein Kanu, in dem zwei Figuren standen und fischten; am Strand standen weitere Sentinelesen und beobachteten die Begegnung. Als sie uns sahen, zogen sich die Fischer zurück ans Ufer, woraufhin wir aufs offene Meer zurückkehrten. Ich bedaure diesen Besuch, denn ich habe, wenn auch nur für einige Minuten, ihre Privatsphäre und Ruhe verletzt. Im Gegensatz zu Chau kam mir jedoch nie in den Sinn, dass ich ihnen irgendeine Weisheit vermitteln könnte. Was kann ich, ein Vertreter einer Zivilisation, die innerhalb weniger hundert Jahre die Biosphäre eines ganzen Planeten an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat, einem Volk anbieten, das seit den Anfängen der Menschheit auf dieser kleinen Insel gedeiht? Sind wir es, die den Sentinelesen etwas beibringen können oder sie uns?

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