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Freistetters Formelwelt: Perfekte Balance ist unmöglich

Ein grausames Gedankenexperiment veranschaulicht die Diskrepanz-Vermutung. Und nun ist klar: Selbst mit kleinsten Schritten überschreitet man irgendwann jede Grenze.
Ein braunes Ei balanciert am Rand einer weißen, wie ein Sprungbrett wirkenden Plattform vor einem türkisfarbenen Hintergrund. Das Bild vermittelt ein Gefühl von Spannung und Balance. Es gibt keinen Text oder eine URL im Bild.
Wenn man gezwungen ist, in der Nähe eines Abgrunds hin- und herzuschwanken, kann man nur verlieren. Das sagt zumindest die Mathematik.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Stellen Sie sich folgendes, durchaus unangenehme Szenario vor: Sie stehen auf einer schmalen Plattform. Zwei Schritte links von Ihnen ist ein tiefer Abgrund und zwei Schritte nach rechts ebenso. Sie dürfen aber nicht still in der Mitte ausharren, sondern müssen sich ständig bewegen. Viel Auswahl haben Sie nicht: Gehen Sie einen Schritt nach links, muss der nächste sofort wieder nach rechts führen, um nicht abzustürzen (und umgekehrt). Sie können aber auch nicht einfach nur abwechselnd mal bis an den linken Rand und dann wieder zum rechten Rand gehen – Sie müssen vorab exakt festlegen, welche Schrittfolge Sie absolvieren. Erst dann wird Ihnen gesagt, ob Sie Ihren Plan umsetzen dürfen oder ob Sie zum Beispiel nur jeden zweiten geplanten Schritt, jeden dritten Schritt und so weiter machen müssen.

Haben Sie eine Chance, das zu überleben?

In der Realität wird man hoffentlich nie in so eine Situation geraten. Aber der britische Mathematiker und Wissenschaftsvermittler James Grime hat diese Geschichte gewählt, um die »Diskrepanz-Vermutung« zu illustrieren. Formal lässt sie sich so darstellen:

|i=1kxdi|>C

Für xi kann entweder +1 oder -1 (ein Schritt nach links oder rechts) gewählt werden und es geht um die Summe aus Zahlen (Schritte), von denen aber nur jede d-te Zahl verwendet wird. Die Diskrepanz-Vermutung besagt, dass es für jede Sequenz aus xi und einer Konstanten C (Abstand zum Abgrund) immer zwei ganze Zahlen k und d gibt, für die die Formel erfüllt ist. Oder anders gesagt: Egal, wie ich die Schritte nach links oder rechts, also +1 und -1, verteile, ich kann sie niemals perfekt ausbalancieren. Irgendwann falle ich immer in den Abgrund – ganz gleich, wie weit er entfernt ist.

Die Vermutung stellte Paul Erdős 1932 auf und es hat mehr als 80 Jahre gedauert, bis sie der australisch-amerikanische Mathematiker Terence Tao beweisen konnte. Dabei könnte man meinen, dass es eigentlich ein simples Problem ist. Immerhin kommen nur die Zahlen +1 und -1 darin vor. Aber wie so oft lassen sich gerade die einfach erscheinenden Fragen manchmal am schwersten beantworten.

Wie lange überlebe ich?

Betrachten wir hierzu noch einmal den Fall des oben beschriebenen Dilemmas am Abgrund. Wir wissen dank des Beweises von Tao, dass es keine Überlebenschance gibt. Es gibt immer eine Sequenz, die am Ende dazu führt, dass man mehr als zwei Schritte in eine Richtung macht. Aber wie lange kann man durchhalten? Wir suchen also eine Folge von xi, die möglichst lang ist und für die die Summe aller Werte von d und k stets kleiner oder gleich 2 ist. Die Mathematiker Alexei Lisitsa und Boris Konev von der University of Liverpool haben das im Jahr 2014 getan. Ihr Ergebnis: Die Abfolge der xi kann maximal 1160 Werte lang sein. Macht man einen Schritt mehr, dann gibt es keine mögliche Kombination dieser nun 1161 xi-Werte, für die die Summe in allen Fällen kleiner oder gleich 2 ist. Es gibt einfach keine vernünftige Wahl mehr. Bei manchen Werten für d hätte dieser nächste Schritt +1 sein müssen; bei anderen Werten dagegen -1, aber beides auf einmal ist unmöglich.

All die möglichen Kombinationen zu prüfen, war mehr als nur aufwändig, Lisitsa und Konev haben es nur mit massivem Einsatz von Computern geschafft. Für den Fall C = 3 konnten sie nur Vermutungen abgeben. Aber aufbauend auf ihrer Arbeit war Terence Tao in der Lage, den allgemeinen Beweis zu führen. Die mathematischen Details sind komplex; Tao hat dabei auf unterschiedlichste Werkzeuge aus den verschiedensten Disziplinen zurückgegriffen. Sätze über die Verteilung von Primzahlen spielen darin ebenso eine Rolle wie die Fourier-Analyse, das Euler-Produkt oder stochastische Funktionen. Aber dank all dem wissen wir jetzt, dass die Diskrepanz-Vermutung keine Vermutung mehr ist. Etwas unwissenschaftlich ausgedrückt können wir nun also mit mathematischer Gewissheit festhalten: Perfekte Balance ist unmöglich.

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