Freistetters Formelwelt: Richtig diskriminieren mit Mathematik

Mein Neffe lernt in der Schule gerade quadratische Gleichungen und muss deswegen natürlich auch die entsprechende allgemeine Lösungsformel kennen. Sie gehört zu den mathematischen Gleichungen, die man auswendig lernen muss und idealerweise auch jederzeit reproduzieren kann; selbst wenn man mitten in der Nacht geweckt und danach gefragt wird – weswegen sie auch als »Mitternachtsformel« bezeichnet wird. Und so wichtig es ist, die grundlegenden Werkzeuge zu beherrschen: Man sollte sie nicht wahllos anwenden. Es lohnt sich, ein wenig über die Eigenschaften einer Lösung nachzudenken, bevor man sich daran macht, eine Gleichung auch tatsächlich zu lösen. Dabei kann diese Formel hilfreich sein:
Wer die Mitternachtsformel bis heute nicht vergessen hat, wird sich vermutlich auch an diesen mathematischen Ausdruck erinnern. Es handelt sich um die »Diskriminante« der quadratischen Gleichung ax² + bx + c = 0. Wie viele und welche Lösungen sie hat, hängt von den Koeffizienten a, b und c und dem daraus gebildeten Wert D ab. Ist D größer als null, dann gibt es zwei unterschiedliche reelle Lösungen, ist die Diskriminante gleich null, dann existiert nur eine reelle Lösung und wenn b² - 4ac negativ ist, dann gibt es keine Lösungen in den reellen Zahlen.
Der Begriff »Diskriminante« stammt vom lateinischen Wort »discriminare«, also unterscheiden. Sie erlaubt es, je nach Wert der Koeffizienten zwischen den Lösungsmöglichkeiten zu differenzieren. Bei der simplen quadratischen Gleichung ist das meistens nicht nötig; die Anwendung der Mitternachtsformel macht nur minimal weniger Arbeit als das Berechnen der Diskriminante. Das Konzept lässt sich aber auch verallgemeinern und kann für Polynome beliebigen Grades verwendet werden. Hier werden die Ausdrücke allerdings schnell kompliziert. Für ein kubisches Polynom ist die Diskriminante D = 18abcd - 27a²d² + b²c² - 4ac³ - 4b³d und bei einer Gleichung vom Grad 4 wird die Berechnung noch länger. Dafür ist aber auch die Bestimmung der Lösungen solcher Polynome höheren Grades deutlich aufwändiger als bei der simplen quadratischen Gleichung. Hier ist es durchaus sinnvoll, vorab erstmal zu testen, mit welchen Lösungsmöglichkeiten man es zu tun hat, bevor man sie konkret berechnet.
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Die Diskriminante ist ein äußerst nützliches Werkzeug und man hat das Konzept deswegen auch über den Bereich der Polynome hinaus verallgemeinert. Das erste Mal aufgetaucht ist das Wort im mathematischen Kontext einer Ausgabe des »London, Edinburgh and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science« aus dem Jahr 1851. Darin hat der englische Mathematiker James Joseph Sylvester einen Aufsatz mit dem Titel »On a remarkable Discovery in the Theory of Canonical Forms and of Hyperdeterminants« veröffentlicht. Im Laufe seiner Abhandlungen beschäftigt er sich auch mit einem Polynom 6. Grades und definiert dabei einen Ausdruck, für den er den neuen Begriff »Diskriminante« einführt. Er hat den Namen gewählt, so Sylvester in einer Fußnote, »weil sie das discrimen oder den Test liefert«. Es sei wichtig, bei der Benennung der Dinge sorgfältig zu sein, denn »Fortschritt in diesen Untersuchungen ist ohne klare Ausdrucksweise unmöglich«.
James Joseph Sylvester hat sein Studium der Mathematik 1831 an der Universität Cambridge begonnen. Die Abschlussprüfung, den berühmten »Tripos«, hat er 1837 als Zweitbester seines Jahrgangs absolviert. Einen Abschluss gab es für ihn allerdings nicht, denn damals waren alle Absolventen verpflichtet, die sogenannten »Neununddreißig Artikel« zu akzeptieren, die die Grundlage der Lehre der anglikanischen Kirche darstellen. Als gläubiger Jude konnte Sylvester das nicht tun. So eine Art von Diskriminierung hat in der Mathematik definitiv nichts zu suchen - und auch sonst nirgendwo.
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