Star-Bugs – die kleine-Tiere-Kolumne: Kleiner Falter auf großer Reise

Wenn Daria Shipilina vom Distelfalter erzählt, leuchten ihre Augen. »Vanessa cardui ist ein Superstar«, findet die Biologin. Neben dem wissenschaftlichen Namen nutzt sie häufig die englische Bezeichnung »Painted Lady Butterfly«. Und tatsächlich sehe der Schmetterling doch aus wie ein kleines Kunstwerk.
Shipilina ist Wissenschaftlerin am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) im niederösterreichischen Klosterneuburg, hat mit den Faltern aber bereits während ihrer Zeit an der Universität Uppsala in Schweden gearbeitet. Die Evolutionsbiologin erforscht Tierwanderungen, »egal ob Vogel oder Insekt«, sagt sie. Sie fasziniere, wie und warum Arten verschiedene Wanderstrategien entwickeln. Dabei gilt ihr Blick stets dem Erbgut. Deshalb bezeichnet Shipilina sich selbst als molekulare Naturforscherin: »Ich sehe meine Aufgabe darin, die genetischen Grundlagen von Naturphänomenen zu studieren.«
Im Distelfalter hat sie ein spannendes Forschungsobjekt gefunden. Und ein wunderschönes. Alle Arten der Edelfalter-Gattung Vanessa zeigen sich in unterschiedlich intensiven Orangetönen mit schwarz-weißer Zeichnung, so auch der Distelfalter. Ruht der Schmetterling, präsentiert er die dezent marmorierte Flügelunterseiten: Braun- und Beigetöne wechseln sich ab und werden nur an den Vorderflügeln von blass orangeroten und schwarzen Flecken unterbrochen.
Distelfalter sind Kosmopoliten. Sie flattern durch Europa, Afrika, Asien, Nordamerika und Australien, von den Küsten bis hinauf auf fast 3000 Meter Höhe. In Mitteleuropa fliegt neben dem Distelfalter nur eine weitere Vanessa-Art, der Admiral (Vanessa atalanta). Der Name »Distelfalter« spiegelt ihre Vorliebe für Disteln wider, die Falter saugen besonders gern an den violetten oder weißen Blüten der dornigen Pflanzen. Dementsprechend findet man den Falter dort, wo seine Lieblingspflanze wächst, etwa auf Wiesen und Trockenrasen.
Sie sind frostempfindlich
Im Gegensatz zu anderen Schmetterlingen vertragen Distelfalter keinen Frost, sie verlassen deshalb unsere Breiten, wenn der Winter naht. Spätestens im Oktober machen sie sich auf eine lange Reise, die sie über das Mittelmeer und teils sogar durch die Sahara bis nach Westafrika führt. Doch dort kommen sie ebenfalls nicht zur Ruhe. Bereits im Dezember machen sich die ersten Tiere wieder auf den Weg in Richtung Norden, hinauf bis nach Großbritannien, Dänemark und die schwedische Tundra. Deutschland erreichen sie manchmal bereits Ende April, meist aber erst im Mai und Juni. Und so ist die Reise der Distelfalter ein ewiger Kreislauf, ohne Anfang und ohne Ende, so scheint es.
Diese Reise fasziniert Daria Shipilina. »Die Zugstrategien der Vögel sind genetisch festgelegt«, sagt sie, »und wir wollten herausfinden, ob das beim Distelfalter auch der Fall ist.« Mehr als 4000 Kilometer sind es von den Überwinterungsgebieten der Falter südlich der Sahara bis ins nördliche Europa. Gemeinsam mit ihrem Team wollte die Biologin die Route nachzeichnen. Doch Schmetterlinge zu verfolgen, ist schwierig.
Einem Zugvogel können Forschende einen GPS-Sender verpassen und die Flugroute mittels Satelliten verfolgen. Auf diese Weise erstellen sie detaillierte Wanderkarten. Distelfalter wiegen weniger als ein Gramm, ein GPS-Sender ist schlichtweg zu schwer für sie. Möglich wären winzige Radiosender, die allerdings nur schwache Signale aussenden. Die Forschenden müssten jedem einzelnen Falter in geringen Abstand folgen – eine unmögliche Aufgabe. Niemand weiß darum, wo die Schmetterlinge Halt macht, um sich zu paaren, Eier zu legen und zu sterben.
Denn auch das unterscheidet Distelfalter von Zugvögeln: Sie benötigen für die Reise mehr als ein Falterleben. Wo immer sie Nahrung für ihren Nachwuchs finden, gründen sie eine neue Distelfaltergeneration, und die startet dann die nächste Etappe. »Deshalb können wir mit einem Falter immer nur einen kleinen Abschnitt der Gesamtstrecke abbilden«, sagt Shipilina.
Distelfalter überqueren den Atlantik
Eine Forschungsgruppe aus Polen, Kanada, Spanien und den USA wies im Jahr 2024 nach, dass Distelfalter den Atlantik überqueren. Für die mindestens 4200 Kilometer lange Strecke zwischen Westafrika und Südamerika benötigten die Schmetterlinge gerade einmal fünf bis acht Tage: eine unglaubliche Leistung für so ein kleines Insekt. Um diesen Kraftakt zu bewältigen, ließen sich die Falter zeitweise von den östlichen Passatwinden tragen.Tierwanderung mit Isotopenanalyse geklärt
Das Forschungsteam nutzte deshalb eine Methode, die ein Team um die kanadische Forscherin Megan Reich entwickelt hat. Für die Isotopen-Geolokalisierung benötigen die Forschenden nur kleinste Proben der Schmetterlingsflügel; ihnen genügen sogar tote Tiere. Die sammelten Daria Shipilina und ihr Team in den Herbstmonaten der Jahre 2018 und 2019 an verschiedenen Stellen von Benin bis Spanien.
In den Proben bestimmten sie das Verhältnis der stabilen Isotope von Wasserstoff und Strontium. »Die Isotopensignatur ist wie ein Fingerabdruck für verschiedene Regionen der Welt«, sagt Shipilina. Und erlaubt so einen Blick in die Faltervergangenheit. Genauer: in die Kinderstube der Insekten. Denn Wasserstoff und Strontium finden über die Futterpflanzen ihren Weg in die hungrige Schmetterlingslarve. »In diesem Fall gilt: Die Raupe ist, was sie isst«, sagt die Forscherin. Und der Distelfalternachwuchs ist wenig wählerisch, frisst neben Disteln auch Brennnesseln, Flockenblumen, Malven und zahlreiche andere Pflanzen. Als ausgewachsener Falter trägt das Insekt die Signatur seines Geburtsorts an das neue Ziel. So entsteht – Generation für Generation – ein Pfad, der die Wanderroute der Distelfalter nachzeichnet.
Die Messergebnisse überraschten die Arbeitsgruppe: Sie fand eine Population, die von Westafrika durch die Sahara und über das Mittelmeer bis nach Europa wanderte. Daneben gab es jedoch auch Kurzstreckenzieher, die den Winter in Regionen rund ums Mittelmeer verbrachten, etwa in Malta, Portugal oder Marokko, und von dort aus zurück nach Norden flogen.
Von vielen Vogelarten ist bekannt, dass sie die Wahl ihrer Wanderrouten über ihr Erbgut an nachfolgende Generationen weitergeben. Als Shipilina und ihr Team jedoch die Distelfaltergenome der Lang- und Kurzstreckenzieher verglichen, fanden sie keinen Unterschied. Die Forscherin fasst zusammen: »Alle Tiere gehören ein und derselben Falterpopulation an.« Dementsprechend ist ihre Flugroute – ob lang oder kurz – nicht in den Genen festgelegt. Die Ergebnisse veröffentlichte das Team Anfang 2025 im Fachmagazin »PNAS Nexus«.
Keine Erbgutunterschiede
Damit bestätigt sich für den Distelfalter, was für einen anderen Langstreckenzieher bereits nachgewiesen wurde. Der Monarchfalter (Danaus plexippus) ist bekannt für seine jährliche Wanderung, bei denen mitunter Millionen Tiere gleichzeitig die mehr als 4000 Kilometer zwischen Mexiko und Kanada zurücklegen. Eine westliche Population überwintert jedoch an der Pazifikküste und fliegt vergleichsweise kurze Distanzen. Auch hier zeigte eine Genomanalyse: Das Erbgut der Falter aus dem Osten und dem Westen ist identisch.
Dennoch spielt die Erbinformation der Distelfalter eine Rolle. »Wir gehen davon aus, dass die Gene je nach Umweltbedingung unterschiedlich exprimiert werden«, so Shipilina. Die Aktivität einzelner Gene wiederum bestimme das Verhalten des Falters und den Weg der Wanderung. Als Faktoren für die Genaktivität vermuten die Wissenschaftler Temperatur und Tageslänge, aber auch Wetterbedingungen und das Nahrungsangebot. Beispielsweise sei aus Laborversuchen bekannt, dass Distelfalterweibchen beginnen, sich zu paaren und Eier zu legen, wenn sie die Wirtspflanzen der Larven sehen, sagt Shipilina. »Ohne potenzielle Futterquellen für die Raupen fliegen sie weiter.«
Gibt es ausreichend Nahrung, lassen sich die Falter hingegen nieder. Mitunter wächst die Schmetterlingspopulation dann sprunghaft an. Im Jahr 2019 etwa gab es in Europa außergewöhnlich viele Distelfalter. Die Tiere kamen aus dem Nahen Osten, wo es im Herbst zuvor – und damit zu der Zeit, als sich die Raupen entwickelten – ein besonders reichhaltiges Pflanzenangebot gegeben hatte.
Distelfalter fliehen vor Rauch und Feinstaub
Je verrauchter die Umgebung, umso schneller fliegen Distelfalter. Rauch und Feinstaub beeinflussen das Wanderverhalten von Insekten, schlussfolgerte ein Forschungsteam aus Großbritannien und veröffentlichte die Ergebnisse im Juni 2025 im Fachmagazin »Environmental Pollution«.
Die Forscher setzten Distelfalter im Labor Feinstaubkonzentrationen von 150, 450 und 900 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft aus. Bereits ab dem niedrigsten Wert flogen die Falter im Schnitt 50 Prozent schneller. Dabei sind Distelfalter sowieso flott unterwegs: In sauberer Luft flogen die Tiere rund 2,4 Meter pro Sekunde, das sind knapp neun Kilometer pro Stunde. Zum Vergleich: Ein Mensch spaziert mit einer Geschwindigkeit von rund fünf Kilometer pro Stunde.
Nun sind Feinstaubkonzentrationen von mehr als 100 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft selbst an Straßen mit viel Verkehr selten. In Deutschland liegt der Grenzwert für kleinste Feinstaubpartikel (PM 2,5) aktuell bei 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel. Ab dem Jahr 2030 gilt EU-weit ein Grenzwert von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft.
Allerdings hatte die Arbeitsgruppe weniger Städte im Blick als ein anderes Phänomen: Regional träten Feinstaubwerte von mehreren hundert Mikrogramm pro Kubikmeter Luft beispielsweise bei Wald- oder Steppenbränden auf, argumentierten sie. Wegen des Klimawandels steigt die Häufigkeit von Bränden und damit auch das Risiko für wandernde Insekten, im Feuer umzukommen. Distelfalter scheinen dieser Gefahr zu trotzen, indem sie Rauch und Feinstaub davonfliegen.
Dieses Phänomen zeigt die Flexibilität der Distelfalter. Evolutionsbiologin Daria Shipilina schaut dennoch mit Sorge in die Zukunft: »Wir fangen gerade erst an, den Einfluss der Klimaveränderungen auf Tierwanderungen zu verstehen«, sagt sie. »Wir wissen beispielsweise nicht, was geschieht, wenn der Migrationszyklus durchbrochen wird.« Sicherlich sei die Anpassungsfähigkeit ein Vorteil für den Distelfalter, vor allem seine Strategie, stets dem Futter zu folgen. Ausdauernden Dürren sei aber auch er ausgeliefert.
Die Wissenschaftlerin ist sich jedoch sicher, dass der verkürzte Wanderzyklus des Distelfalters ein erstes Zeichen dafür ist, dass sich die Falter in Mitteleuropa niederlassen. »Bereits jetzt finden die Falter in einigen Regionen Portugals und Spaniens fast das gesamte Jahr über gute Bedingungen«, sagt sie. Auf Dauer werde es Populationen geben, die nur noch zwischen Nordeuropa und dem Mittelmeerraum hin- und herwandern.
Das ist nichts Neues. »Es gibt bereits sesshafte Populationen«, betont die Biologin. Zwar lebten die nicht in Europa oder Afrika, sondern auf Inseln im Pazifik. Das Wanderverhalten habe sich allerdings im Lauf der Evolution entwickelt. Und ebenso könne es auch wieder verschwinden.
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