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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte vom »Struwwelpeter« und seinen witzigsten Versionen

Der »Struwwelpeter« gilt als das bekannteste Kinderbuch der Welt. Und was als Weihnachtsgeschenk begann, lebt in zig Parodien fort, wie unsere Geschichtskolumnisten erzählen.
Der »Struwwelpeter«.

Es war Weihnachten 1844, als der Frankfurter Psychiater Heinrich Hoffmann auf der Suche nach einem Geschenk für seinen Sohn Carl war. Mit drei Jahren konnte der Nachwuchs noch nicht lesen, deshalb sollte es ein Bilderbuch werden. Hoffmann (1809–1894) klapperte die Buchläden der Stadt ab, war am Ende jedoch enttäuscht, wie er später schrieb: »Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, naturalistische Zeichnungen und simple Moral!«

Eines Tages, nach einer weiteren vergeblichen Suche, kehrte Hoffmann nach Hause zurück – mit einem leeren Notizbuch. Er begann zu zeichnen und zu reimen, bis er schließlich die Urform dessen geschaffen hatte, was wir heute als den »Struwwelpeter« kennen.

Drollige Geschichten und lustige Bilder

Zu jenem Zeitpunkt nannte er sein Werk »Drollige Geschichten und lustige Bilder« – dieser Titel dient heute als Untertitel des »Struwwelpeter«. Noch war allerdings keine Rede von einer Veröffentlichung, obwohl Hoffmann bald von mehreren Seiten gedrängt wurde, er möge das Werk doch der Allgemeinheit zur Verfügung stellen: Seine Verwandten befürchteten, der kleine Sohn würde das Büchlein ohnehin bald zerreißen. Ebenfalls auf eine Publikation drängte eine Gesellschaft namens Tutti Frutti, die sich regelmäßig für erbauliche Vorträge oder Kompositionen traf und deren Mitglied Hoffmann war.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Wenige Wochen nachdem Hoffmann das Geschenk an seinen Sohn übergeben hatte, kamen die »gemischten Früchte« Mitte Januar 1845 wieder einmal zusammen. »Frutto Zwiebel«, wie Hoffmanns Name in dieser Gesellschaft lautete, verlas sein Werk, und seine Fruchtkollegen waren begeistert.

Einer davon, »Frutto Spargel«, der in Wirklichkeit Zacharias Löwenthal (1810–1884) hieß, hatte gerade ein paar Monate zuvor gemeinsam mit einem Geschäftspartner einen Verlag gegründet – die Literarische Anstalt (J. Rütten). Er bot Hoffmann 80 Gulden für das Manuskript. Hoffmann willigte ein. Mit dieser Transaktion, wie er später schrieb, »war ich nachts 11 Uhr, fast ohne es zu wissen, was ich gethan hatte, mit einem Male ein Jugendliterat geworden«.

Der Struwwelpeter eroberte die Welt

Die erste Auflage von 1500 Stück verkaufte sich rasant. Die Quellen liefern unterschiedliche Angaben, aber irgendwann zwischen ein und zwei Monaten nach der Veröffentlichung war die Auflage ausverkauft. Den ursprünglich sechs Geschichten wurden bald weitere hinzugefügt, zum Beispiel die Erzählungen vom Paulinchen, das mit Streichhölzern zündelt, vom Zappel-Philipp und dem fliegenden Robert. Begeisterte Rezeption fand das Werk auch international. Die amerikanische Übersetzung mit dem Titel »Slovenly Peter« stammt von niemand Geringerem als dem Schriftsteller und Satiriker Mark Twain.

Warum aber wurde das Buch so erfolgreich? Das hatte einige Gründe – zwei davon waren technologischer und soziokultureller Natur. Durch die Industrialisierung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland schon weit fortgeschritten war, war es möglich geworden, Bücher weitaus günstiger als zuvor zu vervielfältigen. Vor allem solche mit vielen Bildern, denn die Lithografie ersetzte nun die teure Handkolorierung.

Ein weiterer Grund lag in einer gesellschaftlichen Entwicklung, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte: Bürgerliche Frauen hatten mehr von dem, was wir heute als Freizeit bezeichnen. Zudem hielten mehr Menschen die Kindheit für einen eigenständigen Lebensabschnitt. Eine Folge davon: Die Verlagswelt erkannte Frauen und Kinder als neues Publikum. Damit war das Kinderbuch als literarische Gattung in der Gesellschaft angekommen.

»Nein, meine Suppe ess' ich nicht«

Kinderbücher wurden nun vermehrt produziert und verkauft. Doch warum war gerade der »Struwwelpeter« so beliebt? Das lag wohl einerseits daran, dass die Geschichten im »Struwwelpeter« Verhaltensweisen von Kindern beschreiben, die Menschen damals wie heute beobachten können: ein Kind, das nicht stillsitzen will, ein Kind, das nicht essen will, was auf den Tisch kommt, oder Kinder, die andere mobben, wie in der Geschichte von den schwarzen Buben.

Peter und Paula | Das Kinderbuch »Struwwelpeter« und dessen moderne Version »Struwwelpaula« waren im Jahr 1994 in einer Ausstellung in Berlin zu sehen. Die Figur der Struwwelpaula ist eine Punkerin.

Das war aber noch nicht alles. Denn obwohl für Kinder geschrieben, war der schwarze Humor, den Hoffmann mit seinen Zeichnungen und Geschichten an den Tag legte, vor allem für die Eltern geeignet. Heute scheiden sich die Geister, wie pädagogisch wertvoll die Geschichten sind. Der nicht unbeträchtliche Forschungsapparat, der sich seit der Erstveröffentlichung angesammelt hat, wartet daher mit sehr unterschiedlichen Bewertungen auf.

So spricht ein Forscher von »germanischer Perversion, dem Trübsinn und der Folter«, die dem Buch innewohnen würden. Ein anderer Gelehrter wiederum streicht die anarchische Energie, die Extravaganz und den Humor heraus, der vom »Struwwelpeter« ausgehe. Kein Wunder also, dass der »Struwwelpeter« zeit seiner Entstehung nicht nur zahlreiche Übersetzungen, sondern auch jede Menge Parodien und neue Deutungen anstieß.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es bereits den »Ägyptischen Struwwelpeter«. Drei Wiener Geschwister hatten ihn verfasst, die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) ließ das Buch illegal drucken und verkaufen. In den verschiedenen Versionen des »Struwwelpeter« spiegeln sich zudem gesellschaftliche Veränderungen. So wurden in den 1950er Jahren die »Struwwelliese« und in den 1990er Jahren die »Struwwelpaula« ins Leben gerufen: Als Punk streift darin ein Mädchen durch die Lande und besprüht fleißig U-Bahnen.

Vom »Reichstagsstruwwelpeter« zum »Struwwelhitler«

Vor allem politische Parodien wurden in großen Mengen produziert. So gab es 1848 – dem Revolutionsjahr – den passenden Struwwelpeter als Revolutionär. Im Jahr 1903 kam der »Neue Reichstagsstruwwelpeter« heraus. Darin sollte der Suppen-Kaspar die Angst der altgedienten Politgarde vor der Sozialdemokratischen Partei im Parlament verdeutlichen, die als Sieger aus der Wahl hervorgegangen war: »Lasst sie nicht herein. Wir brauchen keine Sozi, nein!«, heißt es in der Parodie.

Zu Propagandazwecken nahmen die Briten im Jahr 1914 mit dem »Swollen-headed William« den deutschen Kaiser Wilhelm II. aufs Korn. Und unter dem Pseudonym »Dr. Schrecklichkeit« veröffentlichten die englischen Brüder Robert und Philip Spence 1941 den »Struwwelhitler«. Ein Werk, in dem sich die beiden Autoren über Hitler, Göring, Goebbels und Mussolini lustig machten. Schnell und günstig gedruckt, wurde das Buch den britischen Soldaten vor ihrem Einsatz auf dem Festland mitgegeben.

Trotz der vielen Kritik, die dem »Struwwelpeter« auf Grund der teils fragwürdigen moralischen Aussagen im Lauf der letzten Jahrzehnte entgegenschlug, sind die Geschichten noch heute vielen Menschen bekannt. Und weiterhin werden neue Versionen herausgegeben, auch Ausstellungen kuratiert: So öffnete Ende Oktober im Kulturhistorischen Museum Magdeburg eine Sonderausstellung ihre Tore. Auch das Struwwelpeter-Museum in Frankfurt, der Heimatstadt Hoffmanns, erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit. Wahrscheinlich sind es die Zwiespältigkeit und Mehrdeutigkeit des Werks, wie es die Philologin Joanna Dybiec-Gajer von der Universität Krakau in einem Forschungsbeitrag aus dem Jahr 2020 formulierte, die den Struwwelpeter heute noch am Leben halten.

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