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Eine Prise Chemie: Wie alt sind Tausendjährige Eier wirklich?

Einfach nur alt oder besonders lecker? Pidan, ein chinesischer Snack, trägt in Europa einen gewöhnungsbedürftigen Namen. Wir haben uns angeschaut, wie man die speziellen Eier herstellt – und sie natürlich verkostet.
Ein Teller mit geschnittenen tausendjährigen Eiern auf einem blauen und weißen Porzellanteller, daneben eine Schale mit Sojasauce und Sesam. Die Speisen liegen auf einem geflochtenen Untersetzer. Traditionelle chinesische Delikatesse.
»Tausendjährige« Eier isst man in China als Snack, oft mit einer scharfen Sauce oder in einem traditionellen Reisbrei (nicht auf dem Bild).

Unser Essen steckt voller chemischer Details: Leckere, wohltuende und auch schädliche Inhaltsstoffe kommen zusammen und vollführen faszinierende Reaktionen. In der Kolumne »Eine Prise Chemie« klären wir, wie viele Bananen ein zuckerfreier Kuchen verträgt, warum abgestandener Kaffee so übel schmeckt oder wie man bäckt, ohne Acrylamid herzustellen.

Anfang April wartete ein geachteltes Ei in der »Spektrum«-Redaktion auf seinen Verzehr. Im Normalfall verschwindet alles Essbare, das seinen Weg in die dortige Küche findet, nach kürzester Zeit wie von selbst. Doch dieses scheinbare Naturgesetz schien an jenem Tag außer Kraft gesetzt. Vielleicht lag es daran, dass die Eierachtel nicht weiß-gelb waren wie gewohnt, sondern braun-grün-schwarz. Und die glibberige Konsistenz half wohl auch nicht. Vielleicht lag es aber auch an meiner Ankündigung, »Tausendjährige Eier« zum Probieren mitzubringen. Der Ausgang dieses kulinarischen Experiments war jedenfalls gemischt: Manche verlangten gleich nach einem Gegengift, andere fanden die Erfahrung ganz angenehm, ein Kollege nahm sich sogar direkt Nachschlag. Und unser Chefredakteur warnte uns davor, solche Experimente künftig mit stark duftenden Lebensmitteln wie Surströmming zu wiederholen.

Vielleicht muss ich an dieser Stelle klarstellen: Das Tausendjährige Ei ist im Grunde ein großes Missverständnis. Ich habe lange, auch noch als Erwachsene, die Bedeutung wörtlich genommen und dachte, dass es sich dabei wirklich um jahrelang in der Erde verscharrte Eier handle, die besonders abgebrühte Menschen eines wunderschönen Tages feierlich ausgruben und verzehrten. Schon bei der Vorstellung regt sich bei mir jetzt noch unheilvoll der Magen.

Als ich jedoch genauer darüber nachdachte, stellten sich mir Fragen. Allein der logistische Aufwand schien absurd: Wie stellt man sicher, dass die Nachkommen den vergrabenen Schatz nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten wiederfinden? Wer kümmert sich während all der Zeit um die Eier? Wird die Pflege eines Geleges (wäre das der richtige Begriff?) von Generation zu Generation weitergegeben? Genauer betrachtet, erscheint das Unterfangen also doch etwas unrealistisch. Womöglich war das Ganze nur ein Mythos?

Mitnichten – in China gilt die Speise schließlich als Delikatesse. Nur haben die Eier keine 1000 Jahre auf dem Buckel, sondern gerade mal ein paar Wochen oder Monate.

Manchen Quellen zufolge sollen die ersten Rezepte vor zirka 400 Jahren während der chinesischen Ming-Dynastie aufgekommen sein. Traditionell stellt man eine feuchte Masse aus Asche, Salz, Tonerde, Kalziumkarbonat und Wasser her und ummantelt damit frische, rohe Enteneier. So verpackt, lagert man sie anschließend für mehrere Monate luftdicht abgeschlossen an einem dunklen, trockenen Ort. Das Ergebnis nennt man in seinem Ursprungsland China »Pidan«: Der Name bedeutet so viel wie Haut-Ei und kommt möglicherweise daher, dass man das Ei bei der Prozedur mit einer Art zweiten Haut umgibt.

Natriumhydroxid, Salz und Schwarzer Tee

Modernere Methoden funktionieren einfacher und schneller. So kann man die frischen Enteneier auch in eine wässrige Lösung mit Natriumhydroxid und Kochsalz einlegen, optional mit Grünem oder Schwarzem Tee. Außerdem braucht man Metallsalze. In einem luftdicht verschlossenen Gefäß lagern die Eier darin einige Wochen lang bei Zimmertemperatur.

Zugegeben, es reizt mich schon, diese Prozedur einmal selbst auszuprobieren. Doch wer weiß, was dabei alles schiefgehen kann. Daher beschloss ich, für eine Verkostung erst einmal auf kommerziell erhältliche Pidan zurückzugreifen. Fündig wurde ich in einem asiatischen Lebensmittelladen – dort standen im Kühlregal immerhin zwei Sechserpacks, beschildert als »1000-jährige Enteneier«. Enteneier sind etwas größer als Hühnereier und haben eine leicht gesprenkelte Schale. Beim Kauf fiel mir auf, dass sie grünlich schimmerten.

Nach dem Schälen hielt ich ein gummiartiges, dunkelbraun glänzendes und leicht transparentes Ei in den Händen. An einigen Stellen zeigten sich filigrane Fraktale, die aussahen wie kleine Blätter oder Bäumchen – sehr kunstvoll! Als ich mir das Ei direkt vors Gesicht hielt, stieg mir ein leicht stechendes Ammoniakaroma in die Nase. Also doch schlecht geworden?

Kunstvoll | Auf der Außenseite der braun schimmernden, gelartigen Pidan sieht man manchmal Strukturen, die wie kleine Bäumchen aussehen. Auch dieses in der »Spektrum«-Redaktion verkostete Ei zeigt hübsche Muster.

Nein, im Gegenteil! Das Pidan ist in dieser Form sogar monatelang haltbar. Möglich machen es chemische Prozesse, die während der Spezialbehandlung im Innern des Eis ablaufen.

Die Ummantelung enthält meist Natriumkarbonat, Kalziumoxid und Wasser, woraus Natriumhydroxid (NaOH) entsteht. Die wässrige Lösung von NaOH, bekannt als Natronlauge, dringt langsam durch die Poren der Schale ins Innere.



CaO + H2O → Ca(OH)2
Ca(OH)2 + Na2CO3 → 2 NaOH + CaCO3

Weil Natronlauge eine starke Base ist, erhöht sich mit der Zeit der pH-Wert im Entenei. Dort befinden sich Proteine, die zwischen neun und zwölf Prozent der Gesamtmasse ausmachen. Sie bestehen aus langen Ketten aneinandergeknüpfter Aminosäuren, und jedes liegt im rohen Ei in einer streng definierten dreidimensionalen Form vor. Diese Struktur wird durch Anziehungskräfte zwischen den verschiedenen Aminosäuren des Proteins zusammengehalten.

Ein Gel aus Proteinschnüren

In der alkalischen Umgebung, die dank der Natronlauge entsteht, geraten diese Kräfte aus dem Gleichgewicht. Die Verbindungen lösen sich teilweise, so dass die Proteine ihre Struktur verlieren – wie ein Wollknäuel, das langsam abgerollt wird. Aus sorgsam gefalteten Gebilden werden dann lange Proteinschnüre. Diese verknüpfen sich wiederum untereinander zu einem dreidimensionalen Netzwerk, in das Wasser eingelagert wird: Sie bilden ein Gel, so dass das Eiklar fest und glibberig wird. Etwas Ähnliches passiert, wenn man das Ei kocht – doch das Ergebnis ist, wie man unschwer sehen kann, unterschiedlich.

Gelbildung dank Ovalbumin

Ausschlaggebend für die Gelbildung bei der Herstellung von Pidan ist Ovalbumin, das häufigste Protein im Eiklar. Es trägt besonders viele Thiolgruppen – chemische Gruppen mit einem Schwefel- und einem Wasserstoffatom. Thiolgruppen benachbarter Protein-Schnüre können starke chemische Bindungen zueinander ausbilden, die im Gel-Netzwerk sozusagen als Knotenpunkte dienen und verschiedene Ovalbumin-Schnüre höchst effektiv miteinander verbinden. Darüber hinaus gibt es weitere Wechselwirkungen zwischen den Proteinketten. Und noch etwas Besonders geschieht mit den Ovalbumin-Molekülen, wie Forscher 2020 herausfanden: Das »Wollknäuel« entrollt sich nicht vollständig, sondern spezielle Bereiche in der »Schnur« behalten ihre Faltstruktur. Das trägt vermutlich dazu bei, dass auf diese Weise konservierte Eier so lange haltbar sind: bis zu 18 Monate, wie die Forschungsgruppe getestet hat.

Durch die Natronlauge zersetzen sich die Proteine auch langsam, woher letztlich das spezielle Erscheinungsbild und der eigenwillige Geschmack rühren. Neben kleineren Bruchstücken von einer Hand voll Aminosäuren, genannt Peptide, werden auch einzelne Aminosäuren freigesetzt, die anschließend zu flüchtigen Aromastoffen weiterreagieren. Das Ergebnis beschreiben Verkoster äußerst unterschiedlich: In der »Spektrum«-Belegschaft reichten die Assoziationen von »riecht wie ein gewöhnliches gekochtes Ei« über »schweflig« oder »fischig« bis zu einem »Schluck aus einem brackigen Fluss« oder dem »Geruch nach Wattenmeer«. Die charakteristische Note entsteht aus Aminen und Sulfiden, darunter stechend riechendem Ammoniak (NH3) und faulig riechendem Schwefelwasserstoff (H2S).

Außerdem reagieren die freien Aminosäuren mit Zuckermolekülen im Eiklar. Bei dieser Maillard-Reaktion entstehen weitere Aromastoffe und braune Farbmoleküle. Die Lauge beschleunigt die Maillard-Reaktion, ganz ähnlich wie beim Bräunen von Laugengebäck – Brezeln und Brötchen erhalten ihre appetitliche Färbung auf die gleiche Weise.

Wenn man das alles betrachtet, wirkt die Herstellung der Tausendjährigen Eier schon wie echtes Kunsthandwerk. Tatsächlich sticht sie unter den vielen Konservierungsmethoden, die sich Menschen über die Jahrhunderte für unzählige verderbliche Speisen ausgedacht haben, heraus. Denn bei den meisten traditionellen Prozessen verändern sich die Lebensmittel dank Mikroorganismen: Bakterien verwandeln Milch in Joghurt, Schimmelpilze veredeln Käse, Hefen machen aus Zucker Alkohol. Sauerkraut oder Sojasoße sind ebenfalls Produkte bakterieller Stoffwechselreaktionen. Oder Miso, die japanische Gewürzpaste, die jetzt erstmals auf der Internationalen Raumstation ISS fermentiert wurde. Die Metamorphose vom Ei zum Pidan hingegen braucht keine Mikroorganismen – sie funktioniert rein chemisch. Aus wissenschaftlicher Sicht finde ich das wunderschön.

Cremiges Eigelb, aber grün

Apropos schön: Der Dotter wird bei einem guten Pidan fest und trotzdem cremig, fast wie bei einem perfekt gekochten Ei, nur etwas klebriger. Allerdings, das muss man einwenden, ist er nicht mehr gelb, sondern grün-schwarz. Im Prinzip kennen wir das Farbphänomen aus der eigenen Küche: Kocht man Eier mehr als zehn Minuten lang (zum Beispiel, um hart gekochte Ostereier zu erhalten), bekommt das Eigelb einen dünnen grünen Rand. Er rührt daher, dass Schwefelwasserstoff mit Eisenionen im Eigelb reagiert und grünes Eisensulfid bildet. Bei Pidan ist diese Reaktion einfach stärker ausgeprägt.

Vor Bakterien muss man sich beim Verzehr also nicht fürchten. Allerdings gibt es auch eine schlechte Nachricht: Wie erwähnt, werden bei der Herstellung Metallsalze eingesetzt. Traditionell diente dazu früher Bleioxid. Es bildet mit der Zeit zusammen mit dem freigesetzten Schwefelwasserstoff schwer lösliches Bleisulfid und verstopft dadurch die Poren der Eierschale, so dass keine Natronlauge mehr ins Innere gelangt. Würde die Base unbegrenzt hineinsickern, wäre das Ei nach einiger Zeit nämlich so alkalisch, dass das Gel sich wieder verflüssigen würde, und die ganze Arbeit wäre umsonst. Kulinarisch überzeugen die mit Bleioxid hergestellten Eier wohl besonders, zumindest wird das Eigelb dann schön cremig und das Eiklar-Gel erhält eine angenehme Konsistenz. Doch gesundheitlich ist die Methode nicht gerade empfehlenswert, denn das Schwermetall ist giftig und lagert sich in Organen und Knochen ab. Heute ist die Methode verboten, und man nutzt stattdessen Mischungen mit Magnesium-, Zink- oder Kupfersalzen. Es ist aber auch möglich, mit Kalziumsalzen gute Pidan zu erhalten. Und aktuelle Arbeiten untersuchen zunehmend, ob sich auch durch die Asche verbrannter Eierschalen Pidan in der gewünschten Qualität erzielen lassen. Das zeigt: Selbst bei einer so traditionsreichen Speise wie dem Tausendjährigen Ei ist die Forschung noch längst nicht abgeschlossen.

Wer das Ganze einmal testen will, sollte sich vorher nach einem geeigneten Rezept umsehen, denn die Spezialität genießt man nicht pur. In China werden Pidan oft als Snack zusammen mit einer scharfen Soße serviert, die man unter anderem mit Sojasoße, Sesamöl, Reisessig, Chili, Ingwer, Knoblauch und Frühlingszwiebeln zubereitet (es gibt davon viele Variationen mit weiteren Zutaten). Dünn geschnitten, finden die Tausendjährigen Eier außerdem ihren Weg in einen traditionellen Reisbrei, im Englischen Congee genannt. Den Reisbrei habe ich schon oft gegessen – allerdings ohne Pidan. Vielleicht probiere ich ihn beim nächsten Mal mit der speziellen Zutat.

  • Quellen

Cai, J., Sweeney, A. M.:The proof is in the Pidan: Generalizing proteins as patchy particles. ACS Central Science 4, 2018

Ganesan, P. et al.:Comparative study on the nutritional value of Pidan and salted duck egg. Korean Journal of Food Science of Animal Resources 28, 2014

Li, J.-R. und Hsieh, Y. H. P.:Traditional Chinese food technology and cuisine. Asia Pacific Journal of Clinical Nutrition 13, 2004

Lin, C. M. et al.:Use of incinerated eggshells to produce Pidan. Sustainability 14, 2022

Wang, J. und Fung, D. Y. C.:Alkaline-fermented foods: a review with emphasis on Pidan fermentation. Critical Reviews in Microbiology 22, 1996

Zhao, Y. et al.:Formation mechanism of ovalbumin gel induced by alkali. Food Hydrocolloids 61, 2016

Zhao, Y. et al.:Changes in physico-chemical properties, microstructures, molecular forces and gastric digestive properties of preserved egg white during pickling with the regulation of different metal compounds. Food Hydrocolloids 98, 2020

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