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Warkus‘ Welt: Eine Prise Schwerkraft

In der Alltagssprache gelten Naturgesetze als unumstößlich. Tatsächlich sind sie jedoch eher so etwas wie hoch spezialisierte Kochrezepte, sagt unser Kolumnist Matthias Warkus.
Verschiedene Löffel mit verschiedenen Gewürzen

Wenn Ihre Katze durch einen unglücklichen Zufall (oder aus reiner Boshaftigkeit?) gleichzeitig einen Blumentopf und eine leere Einkaufstüte aus dem Fenster schubst, dann schlägt der Blumentopf lange vor der Tüte auf der Straße auf. Das wissen wir alle. Genauso wissen wir aber, wenn wir im Physikunterricht aufgepasst haben, dass es ein Naturgesetz ist, dass alle Körper gleich schnell fallen. Der Grund, warum Blumentopf und Tüte dennoch verschieden schnell am Boden ankommen, ist der unterschiedliche Luftwiderstand unterschiedlich geformter Körper: Er sorgt für die unterschiedliche Beschleunigung, der die beiden Gegenstände insgesamt unterliegen.

Wenn wir Glück hatten, wurde uns das im Physikunterricht schon einmal mit einem ganz klassischen Experiment demonstriert: Dreht man ein langes Glasrohr um, in dem sich eine Unterlegscheibe und eine Flaumfeder befinden, fallen beide erst einmal nicht gleich schnell; pumpt man das Glasrohr aber größtenteils luftleer, ist kein Unterschied mehr in der Fallgeschwindigkeit zu bemerken.

Doch was hat das mit Philosophie zu tun? Die Frage, warum Gegenstände fallen und wenn ja, wie, ist spätestens seit der Entstehung der modernen Experimentalphysik um das Jahr 1600 herum keine philosophische mehr. Was mich interessiert, ist das Wort »Naturgesetz«.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Die meisten Menschen dürften in ihrem Alltag mit diesem Wort vor allem in der Negation zu tun haben, mit der ausgedrückt wird, dass irgendetwas sehr Etabliertes dennoch verändert werden kann. Zum Beispiel in Aussprüchen wie: »Dass in der Stadt überall billige Anwohnerparkplätze sind, ist kein Naturgesetz.« Oder: »Dass man Katzen nicht an der Leine führt, ist kein Naturgesetz.« Damit wird umgekehrt unterstellt, dass ein Naturgesetz etwas ist, dem mit menschlichem Handeln nicht beizukommen ist. Alles kann man ändern, nur Naturgesetze nicht. Sie gelten immer, ewig und ohne Ausnahme.

Wenn der Elektromagnet ins Spiel kommt

Aber ging es denn gerade nicht darum, dass das Naturgesetz »Alle Körper fallen gleich schnell« eben nicht immer gilt, sondern nur im (angenäherten) Vakuum? Müsste man vielleicht das Gesetz ändern in »Alle Körper mit gleichem Luftwiderstand fallen gleich schnell« oder »Alle Körper fallen im Vakuum gleich schnell«? Selbst dann ist natürlich noch vorstellbar, dass es Ausnahmen gibt. Mein Lieblingsbeispiel ist: Wenn die Physikdozentin das ausgepumpte Glasrohr umdreht und gleichzeitig im Stockwerk über ihr, aus welchem Grund auch immer, ein riesiger Elektromagnet eingeschaltet wird, dann fällt die Flaumfeder nach unten, die Unterlegscheibe »fällt« jedoch nach oben und bleibt am oberen Ende des Rohrs hängen.

Jetzt könnte man sagen: Klar, das ist eine Ausnahme; eigentlich fallen doch alle Körper gleich schnell, man muss eben nicht nur den Luftwiderstand, sondern auch alle anderen störenden Einflüsse beseitigen.

Das heißt unter anderem, dass man eigentlich schon vor so einem Experiment wissen muss, was herauskommen soll. Die ganze Vorstellung, dass Naturwissenschaftler ergebnisoffene Experimente machen und aus den Resultaten Gesetzmäßigkeiten herausarbeiten, die wir dann Naturgesetze nennen, gerät dadurch ein wenig ins Wanken.

Aber vor allem wird klar, dass Naturgesetze weniger so etwas sind wie juristische Gesetze, sondern eher so etwas wie altmodisch formulierte Kochrezepte: »Unterschiedlich schwere Körper gleich schnell fallen lassen (vier bis sechs Portionen): Man nehme eine Umgebung mit möglichst geringem Gasdruck und achte darauf, dass keine riesigen Magnete in der Nähe sind.« Und so weiter.

Warum ist das wichtig? Zunächst kann es dazu dienen, Naturgesetze im Vergleich zu anderen Sätzen einzuordnen, denn es zeigt sich, dass es mathematische Gesetze oder Gesetze des alltäglichen Lebensvollzugs gibt, die auf eine ganz andere Art allgemein gültig sind als Naturgesetze, nämlich völlig ohne Berücksichtigung der Ergebnisse irgendwelcher Beobachtungen. Und außerdem zeigt es, dass auch Naturgesetze irgendwie »konstruiert« und Menschenwerk sind, was vielleicht unser Denken über sonstige menschliche Konstrukte beeinflussen mag.

Denn auch wenn es letztlich so ist, dass Naturgesetze hoch spezialisierte »Kochrezepte« aus menschlicher Feder sind, heißt das nicht, dass alle Kochrezepte gleich gut oder gleich richtig sind. Sie müssen sich daran messen lassen, ob jeder beliebige Mensch sie an jedem beliebigen Ort erfolgreich nachkochen kann.

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